Auch Brandenburg trägt Verantwortung für das Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens
„Brandenburgs Verfassungsschutz ist mitverantwortlich für das Scheitern des ersten NPD-Verbotsverfahrens.“ Das sagte Ursula Nonnemacher, die Obfrau der bündnisgrünen Landtagsfraktion im NSU-Untersuchungsausschuss Brandenburg, nach der Sitzung am 22. März 2018. „Denn der Informant ,Piatto‘ ist im Auftrag der Behörde nicht nur NPD-Mitglied geworden, sondern er hat Anfang des Jahres 2000 den Auftrag bekommen, sich in den Landesvorstand der NPD Berlin-Brandenburg wählen zu lassen.“ Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verbotsverfahren am 18. März 2003 abgebrochen, weil Verfassungsschutzbehörden zahlreiche V-Personen in Vorstandsgremien der NPD geführt hatten.
Es gibt rechtsextremistische V-Leute, die in Täuschungsabsicht mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet haben, um ungestört ihrer politischen Arbeit oder ihren rechtsextremistischen Geschäften nachgehen zu können. Im Fall „Piatto“ alias Carsten Szczepanski ist hingegen beim Aktenstudium und in der Doppelsitzung am 22. und 23. März 2018 ein anderes Bild entstanden, wie Ursula Nonnemacher feststellt: „Die rechtsextremistischen Aktivitäten des Informanten ,Piatto‘ sind überwiegend als rechtsextremistische Aktivitäten im Sinne beziehungsweise im Dienste des Brandenburger Verfassungsschutzes zu bewerten. Denn die Behörde hat ihrem Informanten Arbeitsaufträge erteilt, die teilweise dermaßen umfangreich waren, dass sie keinesfalls in Acht-Stunden-Tagen bewältigt werden konnten. Weitere rechtsextremistische Umtriebe von Szczepanski hat der Verfassungsschutz gebilligt oder geduldet. Der Zeuge Jörg Milbradt, der über die gesamte ,Piatto‘-Phase hinweg das Auswertungsreferat leitete, hat insoweit unsere Erkenntnisse aus dem Aktenstudium bestätigt. Die Verfassungsschutzbehörde ist folglich weitgehend für die rechtsextremistischen Bestrebungen verantwortlich, die von Carsten Szczepanski ausgegangen sind.“
Die „Combat 18“-Aktivitäten des „Piatto“
„Piatto“ wurde derart eng vom Verfassungsschutz geführt, dass sich Szczepanski bei seinem V-Mann-Führer sogar erkundigt hat, wie er sich in einem internen Konflikt der britischen Terrorgruppe ,Combat 18‘ positionieren soll – zugunsten des C18-Führers Charlie Sargent oder zugunsten des C18-Kaders Wilf Browning. Eine Antwort des V-Mann-Führers scheint nicht aktenkundig zu sein. Fakt ist jedoch, dass sich Szczepanski auf die Seite des Terrorgruppen-Chefs geschlagen hat.
Sargent durfte mehrseitig in Szczepanskis Szene-Heft ,United Skins‘ veröffentlichen. Im ,United Skins‘ wurde auch das Pamphlet ,Drowning Browning‘ beworben, in dem angebliche Beweise gegen den Sargent-Kontrahenten Wilf Browning präsentiert wurden. Zu beziehen war diese Schrift über ein Postfach, das nach Erkenntnissen den brandenburgischen Landeskriminalamts Szczepanski und seinem V-Mann-Führer mit dem Arbeitsnamen Dieter Borchert gehörte.
Szczepanski hat dem Verfassungsschutz die Adressen deutscher C18-Interessenten geliefert – und später deutsche Interessenten des ,National Socialist Movement‘ (NSM), in dem sich Sargent-Gefolgsleute organsiert haben. Szczepanski fungierte mit Wissen des Verfassungsschutzes als „Kontaktmann für deutsche NSM-Interessenten“, wie aus einem Vermerk des stellvertretenden Verfassungsschutz-Leiters Jörg Milbradt vom 26. Juli 2000 hervorgeht. Kontaktanschrift des NSM in Deutschland sowie der „Anti-Antifa Brandenburg“ war wiederum das Postfach des V-Mann-Führers und seines Informanten „Piatto“ – wobei Szczepanski das Postfach während seiner Zeit im geschlossenen Vollzug zwangsläufig kaum selbst leeren konnte.
Über dieses Verfassungsschutz-Postfach konnte auch das britische Neonazi-Magazin „The Order“ bestellt werden, wie aus dessen Ausgabe mit der Nummer 20 hervorgeht. Das Heft ist nach der gleichnamigen Terror-Organisation in den USA benannt.
Die neonazistische US-Gruppierung „The Order“ ist auch unter dem Namen „Brüder schweigen“ bekannt. Kleidungsstücke mit diesem Aufdruck haben beim NSU-Prozess in München laut Medienberichten der Angeklagte André E. sowie sein Zwillingsbruder Maik E. aus Brandenburg getragen.
In der erwähnten Ausgabe des Magazins „The Order“ sind auch die Kontaktanschriften von Szene-Gefangenen abgedruckt. Im Unterschied zu den langen Namenslisten in deutschen Neonazi-Heften handelt es sich aber um eine Auswahl von nur 16 Häftlingen. Unter ihnen sind „Combat 18“-Führer Paul „Charlie“ Sargent, der Gründer der NSDAP-Aufbauorganisation Gerhard Lauck, die beiden „The Order“-Mitglieder Richard Scutari und Randy Evans sowie Carsten Szczepanski.
Verfassungsschutz-Postfach als Kontaktadresse für Neonazis
„Es dürfte ein bundesweit einmaliger Vorgang sein, dass ein Verfassungsschutz-Postfach als Kontaktadresse für terroraffine Rechtsextremisten diente“, so Ursula Nonnemacher. „,Piatto‘ oder sein V-Mann-Führer müssen die Interessenten auch mit dem entsprechenden Informationsmaterial beziehungsweise den entsprechenden Broschüren versorgt haben, sonst hätte Szczepanski das Vertrauen der militanten Neonazis aus England verloren. Es liegt die Vermutung nahe, dass Szczepanski Mitglied der Terrorgruppe ,Combat 18‘ war. Denn andernfalls hätte er wohl kaum die Adressen der deutschen C18-Interessenten von den Briten weitergeleitet bekommen.“
Schreiben an seinen V-Mann-Führer hat Szczepanski beispielsweise mit „88“, dem Zahlencode für „Heil Hitler“, beendet. Der Informant schrieb dem Verfassungsschützer mehrfach auf Briefpapier, auf das ein vermummter Kämpfer mit Sturmgewehr gedruckt war – eine Zeichnung, die aus einem „Combat 18“-Logo bekannt ist. Daneben stand die C18-Losung: „Whatever it takes.“
Die Gruppe „Combat 18“ ist unter anderem für Nagelbombenanschläge bekannt. Nach dem Nagelbombenanschlag des NSU in Köln hatte sich deshalb die britische Polizeieinheit „Scotland Yard“ bei den deutschen Ermittlungsbehörden gemeldet, um sie für etwaige C18-Bezüge zu sensibilisieren. Vergebens. Der Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 wurde erst nach der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 mit Rechtsterrorismus in Verbindung gebracht.
Aber zurück zu den Verbindungen des „Piatto“ in terroristische Kreise: Das Londoner Postfach, das von „Combat 18“-Chef Sargent, dem Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“, dem „National Socialist Movement“ und dem Magazin „The Order“ genutzt wurde, diente ab der Ausgabe 11 als Kontaktadresse für Szczepanskis Fanzine „United Skins“. Die „Combat 18“-Ausrichtung des Heftes war so stark ausgeprägt, dass es sogar einem Leserbriefschreiber zuviel war, wie in Ausgabe 13 zu lesen ist: „Was mich ferner am U.S.-Zine stört, ist, dass es zu ,C18-lastig‘ ist.“
Der Verfassungsschutz hielt Szczepanski in der Neonazi-Szene
Brandenburgs Verfassungsschutz hat sich von Anfang an dafür eingesetzt, dass der wegen Mordversuchs inhaftierte Szczepanski in der rechtsextremistischen Szene bleibt. Laut einem Verfassungsschutz-Vermerk vom 11. März 1997, in dem ein Gespräch mit der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) dokumentiert ist, haben „Piattos“ Auftraggeber zu verstehen gegeben, „dass eine Lösung des Informanten aus der rechten Szene weder im Interesse unserer Abteilung, noch in dem der öffentlichen Sicherheit liegen würde, weil man zur Gefahrenabwehr auch auf seine Informationen angewiesen sei“.
Ursula Nonnemacher: „Statt die Resozialisierung des Gefangenen Szczepanski zu unterstützen, hat der Verfassungsschutz seinen Informanten immer tiefer in die rechtsextremistische Szene hineingesteuert.“ Sogar das Ladengeschäft, das Szczepanski nach seiner Entlassung in Königs Wusterhausen aufbaute, diente seiner Legendierung, wie der Zeuge Milbradt bestätigt hat. Ursula Nonnemacher: „Der Verfassungsschutz hat im Vorfeld die Geschäftsräume besichtigt, er hat die Betriebshaftpflichtversicherung bezahlt und er hat mit Szczepanski Getränke im Großhandel geholt, um sie in dem Laden verkaufen zu können.“
Eine Operation in der militanten Szene trug zur Abschaltung bei
„Piatto“ wurde gezielt in die militante Szene gesteuert. Bei einer solchen Operation ging im Jahr 2000 etwas schief. Die Zielperson, ein rechtsextremistischer Bombenbauer, belastete den Verfassungsschutz-Informanten gegenüber der Polizei. Szczepanski wurde maßgeblich deshalb – so die offizielle Darstellung – am 30. Juni 2000 abgeschaltet. Elf Tage vorher hatte Verfassungsschutz-Leiter Heiner Wegesin vermerkt, dass Szczepanski „einen erheblichen Teil des Lebensunterhaltes aus der Zuwendung“ seiner Behörde bestreite.
„Als ,Piatto‘ abgeschaltet wurde, war er faktisch von Beruf Neonazi – im Auftrag des Verfassungsschutzes“, kritisiert Ursula Nonnemacher. „In Anbetracht seines Auftragsvolumens und seiner aufwändigen Legendierung mit einem Ladengeschäft erinnerte sein Einsatz an den eines Verdeckten Ermittlers. Umso erstaunlicher ist es, dass Szczepanski nach Auskunft des Zeugen Milbradt nicht einmal förmlich als V-Mann verpflichtet worden ist. Formell war er daher nur Informant – und das, obwohl er nach Aussage von Brandenburger Verfassungsschützern eine der wichtigsten Quellen in Deutschland gewesen sein soll.“
Die „Piatto“-Enttarnung war ein Glücksfall für den Verfassungsschutz
Die Enttarnung des „Piatto“ folgte zehn Tage nach seiner Abschaltung. „Das war in letzter Konsequenz ein Glücksfall für den Verfassungsschutz und für Szczepanski“, analysiert Ursula Nonnemacher. „Denn dadurch konnte Szczepanski sein Leben als Neonazi von heute auf morgen beenden und sich unter staatlicher Aufsicht eine neue Existenz aufbauen. Andernfalls wäre er ohne Lebensgrundlage in der Neonaziszene zurückgelassen worden, was für ihn eine persönliche Katastrophe und für den Verfassungsschutz mit unabsehbaren Risiken verbunden gewesen wäre.“