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Axel Vogel spricht in der Sondersitzung des Landtages zu Stasi-Fällen

Herr Präsident! Herr Ministerpräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

„Von ihrer Landesregierung erwarten die Menschen in Brandenburg, dass sie dauerhaft stabile politische Verhältnisse im Lande gewährleistet sowie ordentlich und geschlossen ihre Arbeit verrichtet.“ So lautete ein Schlüsselsatz aus Ihrer Regierungserklärung am 18. November dieses Jahres.

Kaum zu glauben, dass seitdem nicht einmal vier Wochen vergangen sind, vier Wochen, in denen im Wochenrhythmus über neue Stasi-Fälle oder Stasi-Anschein-Fälle in den Medien berichtet wird, vier Wochen, in denen zunächst die Fraktion DIE LINKE, dann zunehmend die gesamte Landesregierung und inzwischen das gesamte Land in der Diktion des Ministerpräsidenten schmerzlich damit konfrontiert wurden, dass Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinanderklaffen.

Vier Wochen, in denen deutlich wurde, dass wir von einer Versöhnung zwischen Opfern und Tätern der Diktatur des Proletariats meilenweit entfernt sind, vier Wochen aber auch, in denen der Keim des Misstrauens zwischen uns Abgeordnete gesät wurde und langsam, aber sicher gewachsen ist.

Ich frage Sie: Wer von uns würde heute noch seine Hand für einen vor 1970 geborenen Abgeordneten der Linken ins Feuer legen? Wer von Ihnen würde heute noch eine Ehrenerklärung für einen langjährigen Kollegen abgeben? Es ist keine vier Wochen her, dass ich in meiner Antwort auf diese Regierungserklärung an dieser Stelle warnte, dass „mögliche demnächst zutage tretende Gedächtnisverluste Einzelner dann böse auf Sie - DIE LINKE - zurückfallen werden.“ Heute muss ich mich an dieser Stelle korrigieren: Die Gedächtnisverluste Einzelner fallen nicht nur böse auf Sie, DIE LINKE, zurück, sondern sie fallen auf die gesamte Landesregierung zurück, ja, sie drohen inzwischen das Ansehen des gesamten Landes bundesweit zu schädigen.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

An dieser Stelle möchte ich aber auch gleich einfügen: Ich gehe bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass die Führung der Linken von den Fällen keine Kenntnis hatte. Wenn sie davon Kenntnis gehabt haben sollte und dies bekannt wird, werde ich der Erste sein, der von diesem Ministerpräsidenten - Herr Minister Platzeck - die Auflösung dieser Koalition fordern wird.

(Beifall des Abgeordneten Burkardt [CDU])

Bis jetzt gehe ich davon aus, dass dies nicht der Fall ist. Es sind aber nicht allein die Gedächtnisverluste oder die im
Wochenrhythmus zutage geförderten Verpflichtungserklärungen und Aktenauszüge der Stasi-Unterlagen-Behörde, die das Ansehen der Regierung und das Ansehen des Ministerpräsidenten beschädigen. Nicht zuletzt sind es auch das Verhalten und die Reaktionen - mitunter auch die Nichtreaktionen - des Ministerpräsidenten selbst, die sein persönliches Ansehen bundesweit auf den Nullpunkt zu bringen drohen.

Was hätten wir von einem Ministerpräsidenten erwartet, der in seiner ersten Regierungserklärung eine gute Viertelstunde lang über das Prinzip Verantwortung referiert? - Ganz einfach! Dass er Verantwortung auch dann übernimmt, wenn es gefordert ist, dass er angesichts immer neu auftauchender belastender Materialien aus der Stasi-Unterlagen-Behörde und dem dazugehörigen Medienecho die Verantwortung für deren Aufarbeitung nicht an seinen Koalitionspartner delegiert, sondern von sich aus vor die Presse und vor uns als gewählte Volksvertreter tritt und erklärt, wie er mit der Situation umzugehen gedenkt und Vertrauen in seine Regierung wiederherstellen will.

(Burkardt [CDU]: Er hört gar nicht zu!)

Wir hätten gern erfahren, welchen Maßstab er an die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen legt, die mit der Stasi in Kontakt standen. Wir hätten gern gewusst, ab wann er einen Abgeordneten als Träger seiner Regierung für untragbar hält und welche Konsequenzen er dann von diesem Abgeordneten und den Fraktionen, von dessen Fraktion erwartet. Wenn schon wir als Abgeordnete mangels nach außen erkennbarer und dokumentierter Handlungen keinen Aufklärungswillen des Ministerpräsidenten ersehen können, dann hätten wir wenigstens gern gehört, woran er selbst seinen Aufklärungswillen festmacht. Wir hätten auch gern gehört, ab wann für ihn das Maß voll ist, ab wann er für seine Regierung keine Legitimierung mehr sieht und wie er dann zu handeln gedenkt.

(Beifall GRÜNE/B90 und FDP - Zuruf von der CDU: Genau!)

Weil wir all dies bis vorgestern nicht gehört hatten, haben wir diese Sondersitzung beantragt, um Ihnen hier Gelegenheit zu geben, sich selbst zu erklären. Was wir allerdings nicht hören wollten, ist, dass die Verantwortung auf zwei Sündenböcke abgewälzt wird, dass die Opposition einen dicken Balken im eigenen Auge hat und die Sozialdemokratie der Hort des Wahren und Guten ist.

(Beifall GRÜNE/B90, Lachen sowie starker Beifall CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich noch einige Gedanken in unserer eigenen Sache als Abgeordnete und Parteimitglieder vorausschicken. Der Ministerpräsident hatte auch schon herausgearbeitet, wieso es möglich ist, dass sich dieser Landtag - wenn momentan auch nur in Gestalt einer einzigen Fraktion - als Biotop für ehemalige Stasi-Aktivisten herausgestellt hat.

(Richter [SPD): Das wird sich noch zeigen!)

- Ich habe gesagt: Bislang. Das ist aber - und das hat er deutlich herausgearbeitet - eine Folge von Versäumnissen des gesamten Hauses in den letzten zwanzig Jahren. Es ist die Folge dessen, dass das anders als in anderen ostdeutschen Bundesländern mit obligatorischen Überprüfungen, wo dieser Fall hätte erst gar nicht auftreten können, jeder Kandidat von vornherein gewusst hätte, dass er nach erfolgter Wahl durchleuchtet werden würde. Das war hier nicht gegeben.

Was der Ministerpräsident aber nicht genannt hat, sind die Gründe für diesen Verzicht auf eine Regelüberprüfung, der uns die heutige Situation erspart hätte. Diese Gründe sind unseres Erachtens in der Frühzeit dieses Bundeslandes zu suchen. Nennen wir die Gründe: Stolpe-Faktor und Diestel-Bremse,

(Heiterkeit GRÜNE/B90)

ein ehemaliger Ministerpräsident, der kein Interesse an einer offensiven Aufarbeitung seiner Kontakte mit der Staatssicherheit hatte,

(Vereinzelt Beifall CDU)

eine oppositionelle Linke, die lieber nicht zu genau wissen wollte, mit wem sie da in einer Fraktion sitzt, ein bis heute - und jetzt nehme ich einmal mein Recht auf Indemnität in Anspruch - dubios erscheinender CDU-Fraktionsvorsitzender und Ex-Innenminister der letzten DDR-Regierung,

(Beifall CDU)

der kein gesteigertes Interesse an einer Durchleuchtung seiner Blockparteifunktionäre hatte.

(Frau Prof. Dr. Heppener [SPD]: Demokratisch gewählt!)

Ich glaube, das sind die Gründe, die dazu führten, dass hier auf Überprüfungen verzichtet wurde. Wenn der Ministerpräsident auf die Gründungsgeschichte der Parteien nach der Wende hingewiesen hat, dann können wir das unter dem Titel „Die Stasi stand Pate“ zusammenfassen. Bei allen ostdeutschen Parteineugründungen - da nehme ich auch die Grünen in der DDR nicht aus - war die Stasi mit von der Partie, egal ob in der Partei unserer heutigen Bundeskanzlerin, dem Demokratischen Aufbruch, der SPD, dem BÜNDNIS 90 oder auch der Grünen in der DDR. Republikweit gesehen waren alle Führungsgremien mit Stasi-Zuträgern durchsetzt.

(Zuruf von der CDU: Na klar!)

Wolfgang Schnur und Ibrahim Böhme waren die prominentesten und nur die Spitzel-Spitzen des Eisbergs. In die Führungskader der später mit CDU und FDP verschmolzenen vier Blockparteien waren die Kameraden vom MfS vermutlich schon lange vorher implantiert gewesen.

(Zuruf von der CDU: Richtig!)

Angesichts dieser enttarnten Stasi-Paten hätte man davon ausgehen können, dass alle Parteien in Brandenburg auch auf allergeringste Stasiverbindungen ihres Führungspersonals allergisch reagiert und sich sofort - ohne viel Federlesens - von belasteten Abgeordneten getrennt hätten. Keine Rede davon! Jetzt wird auf die Ehrenkommission Bezug genommen. Diese sogenannte Ehrenkommission, die aus zwei Kirchenvertretern
bestand, dokumentiert doch nur, dass die damaligen Fraktionen sich nicht trauten, selbst ein Urteil und eine Bewertung abzugeben.

(Beifall GRÜNE/B90 und CDU)

Die einzigen, die selbstständig ein Urteil gefällt und auch alle Stasiakten veröffentlich haben, war Ihre Fraktion, Herr Platzeck, war BÜNDNIS 90, wo auch Ihre eigene Stasiakte - die keine ist - enthalten ist. Ich denke, das ist der Maßstab, an dem man sich auch heute noch ausrichten kann, und ich denke, es sollten auch alle Stasi-Unterlagen veröffentlicht werden.

(Beifall GRÜNE/B90 und vereinzelt CDU)

Diese beiden Kirchenvertreter waren im Übrigen mitnichten vom Landtag, sondern von den Fraktionsvorsitzenden gebeten worden, die Bescheide der Stasi-Unterlagen-Behörde zu bewerten, und sie berichteten auch nicht dem Landtag, sondern dem damaligen Landtagspräsidenten und einem kleinen Kreis von Personen.

Von diesem Duo wurde damals ein ausgesprochen weichherziger Umgang mit den Belasteten an den Tag gelegt. Lediglich den beiden Vertretern der Bürgerrechtsbewegung, die ihre Mandate bereits auf Druck ihrer Fraktion zurückgegeben hatten, wurde der längst vollzogene Rücktritt nahegelegt. Alle anderen zehn wurden allein wegen fehlender Unterlagen als „Grenzfälle“ eingestuft. Im Lichte später auftretender Beweise, wie im Fall des CDU-Abgeordneten Klaus Häßler, erwies sich die damalige Einstufung als „Grenzfall“ als vorschnell. Interessant wäre, sich die auf den heutigen Stand gebrachten Akten aller damaligen „Grenzfälle“, also auch der ausgeschiedenen MdLs, noch einmal vorzunehmen. Ich glaube, man würde Bauklötze staunen. Günter Nooke - heute CDU-Mitglied, damals Fraktionschef von BÜNDNIS 90 - erinnert sich in den „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ vom 01.12., über die Verdachtsfälle, zu denen schon 1991 auch Gerlinde Stobrawa gehörte, „sei nie wirklich debattiert worden, und im Zuge der Kontroverse um Regierungs- und SPD-Chef Manfred Stolpe, alias IM-Sekretär, seien auch die damaligen offenen Fragen in den Hintergrund gerückt“.

Herr Ministerpräsident! Sie wissen so gut wie ich: Zur Übernahme von Verantwortung gehört, dass man auf dem Deich steht, wenn die Flut heranrollt, und klare Handlungsanweisungen gibt und nicht allein über Sendboten aus dem vermeintlich sicheren Hinterland mit der erschreckten Bevölkerung kommuniziert.

(Lachen und Beifall GRÜNE/B90)

Wer einen Deich verteidigen will, muss Sickerwasser von Qualmwasser unterscheiden können, wenn er nicht unnötige oder falsche Verteidigungsmaßnahmen ergreifen und mitsamt seinem durchweichten Deich weggespült werden will.

(Lachen des Abgeordneten Burkardt [CDU])

Fragen wir uns: Haben Sie in diesem Fall immer die richtigen Maßnahmen ergriffen? Haben die Spitzen der Regierungskoalition einwandfrei gehandelt? Ich will gar nicht groß auf das tagelange Schweigen nach den Enthüllungen im Fall Hoffmann eingehen, der von Ihnen lange nur als ein Problem der Linken angesehen wurde, ein Problem, das diese schon allein lösen würden. Schlimm genug!

Gehen wir doch einmal den Fall von Frau Stobrawa chronologisch durch, ein Name, der direkt hörbar ausgespart wurde.

(Heiterkeit GRÜNE/B90)

Rufen wir uns in Erinnerung: Am Tag der Bambi-Verleihung, am Donnerstag, dem 26.11., wird bekannt, dass die Parlamentsvizepräsidentin Frau Stobrawa als IM für das MfS tätig gewesen sein soll. Zu dem Zeitpunkt, als der Landtagspräsident, der SPD-Fraktionsvorsitzende und die ehemaligen Minister Dellmann und Frau Wanka gegenüber der Presse erklären, rein gar nichts von einem Wirken Frau Stobrawas für das MfS gewusst zu haben,
sagt der Ministerpräsident bereits, die Vorgänge seien doch schon seit 1991 bekannt und hätten keinen Neuigkeitswert. Frau Stobrawa sei von einer Landtagskommission überprüft worden und diese habe keine Empfehlung zur Mandatsniederlegung ausgesprochen. Es sei nicht erkennbar, ob es Erkenntnisse gibt, die 1991 nicht in die Bewertung einfließen konnten.

Dazu sagt Herr Nooke: „Der hat damals die Debatten sehr genau mitverfolgt.“ Gemeint war der Ministerpräsident.
„Bei der Wahl von Stobrawa zur Parlamentsvizepräsidentin seien dem heutigen Regierungschef dann aber offenbar die seit 18 Jahren unbeantworteten Fragen in dem Fall nicht mehr präsent gewesen.“ Unter dem Druck der Medien und der Landtagsopposition erklärte Frau Stobrawa dann einen Tag später, ihre Tätigkeit als Landtagsvizepräsidentin ruhen zu lassen. Der Ministerpräsident findet der Presse gegenüber am selben Tag diese Reaktion „angemessen“ und bestätigt, dass die SPD erst nach einer Anhörung in der Fraktion über einen nötigen Rückzug Frau Stobrawas entscheiden wird.

Am 30.11. tritt Frau Stobrawa dann als Landtagsvizepräsidentin zurück, nachdem ihrem Parteivorsitzenden Thomas Nord nach Einsichtnahme in die Unterlagen arge Zweifel an der bisherigen Darstellung gekommen sind.
Frau Kaiser erklärt laut „PNN“ vom 02.12., dass sie mit einem hochrangigen Vertreter der SPD unmittelbar vor der Wahl Stobrawas über diese Angelegenheit und eben die bekannten Hinweise auf eine frühere IM-Registrierung Stobrawas gesprochen habe. Allerdings kann sie sich nicht mehr genau erinnern, wer diese Person aus der SPD-Spitze gewesen sein soll.

(Lachen bei der CDU)

Ich will hier nicht raten, mit welchem SPD-Spitzenfunktionär sie gesprochen zu haben scheint. Aber selbst wenn Ihr Gedächtnis trügen sollte ...

(Frau Kaiser [DIE LINKE]: Warum haben Sie mich nicht gefragt?)

- Ich habe jetzt erst einmal vorausgesetzt, dass das, was hier als Zitat in der Zeitung stand, stimmt.

(Bischoff [SPD]: 100 %!)

Aber selbst wenn Ihr Gedächtnis trügen und das falsch sein sollte: Ist das die versprochene Transparenz und Aufklärungsarbeit? Ist dies der offene und kritische Umgang mit früheren Fehlern? Entspricht „dieses Vorgehen der Linkspartei diesem Koalitionsvertrag“, wie es in der Pressemitteilung des Ministerpräsidenten vom 30.11. nach tagelangem Schweigen in wörtlicher Rede heißt? Urteilen Sie selbst!

Wäre es nicht das Selbstverständlichste auf der Welt gewesen, angesichts der wochenlang immer gleichen vier in der Presse kursierenden Namen ehemaliger Stasi-IMs in der Linksfraktion seitens der Linken oder der SPD - wenn sie es denn gewusst hätte - einfach einmal zu erwähnen, dass Frau Stobrawa in dieser Aufzählung fehlt? Wäre es nicht notwendig gewesen, daran zu erinnern, dass es 1991 die Ehrenkommission gegeben hat, und die damals bekanntgewordenen Ergebnisse öffentlich zu machen, sodass sich die Landtagsabgeordneten aller Fraktionen ein Bild der Kandidatin hätten machen können?

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Ich möchte in Erinnerung rufen, dass die Oppositionsfraktionen Frau Stobrawa bei der Wahl zur Vizepräsidentin nicht als Person, nicht wegen ihrer Vergangenheit nicht mitgewählt haben, sondern weil wir aus unserem grundsätzlich anderen Demokratieverständnis dieses Amt für die stärkste Oppositionsfraktion eingefordert haben. Es ist klar: Hätte die Mehrheit dieses Hauses der Schaffung eines zweiten Vizepräsidentenamtes zugestimmt, hätten auch wir aufgrund unzureichender Informationen Frau Stobrawa gewählt.

Es war dieses Hinter-dem-Berg-halten mit Informationen durch die Linke vor der Wahl der Vizepräsidentin, die Frau Stobrawa in diesem Amt unhaltbar gemacht hat, und zwar völlig unabhängig von den Erkenntnissen der Birthler-Behörde.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Die neuen Informationen sind dann nur noch das Tüpfelchen auf dem i gewesen. In der bereits zitierten Pressemitteilung vom 30.11. - überschrieben mit „Zu neuerlichen Erkenntnissen über eine frühere Stasimitarbeit von Abgeordneten der Linksfraktion“ - erklärt Ministerpräsident Matthias Platzeck: „Diese Nachrichten sind Ausdruck eines schmerzlichen, aber notwendigen Prozesses. Dieser Prozess ist Bestandteil des zwischen beiden Regierungsparteien geschlossenen Koalitionsvertrages.“ Soll ich jetzt lachen oder weinen?

(Lachen bei der CDU)

Diese Nachrichten sind mitnichten Ergebnisse des Koalitionsvertrages. Sie sind ein Ergebnis - und ich sage bewusst nicht „Erfolg“, weil es Erfolge gibt, auf die man lieber verzichtet hätte -,

(Vereinzelt Beifall CDU)

das wesentlich der von meiner Fraktion initiierten Debatte zu einer obligatorischen Überprüfung aller Abgeordneten in diesem neuen Landtag zu verdanken ist. Sie sind aber darüber hinaus und in allererster Linie das Ergebnis eines investigativen Journalismus

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

und eines neu entfachten Aufklärungswillens und -interesses in der Medienlandschaft - und ich will hoffen auch der breiten Bevölkerung - an der Auseinandersetzung mit diesem Thema. Sie sind Ergebnis einer funktionierenden vierten Gewalt, für deren Neubegründung die friedlichen Revolutionäre von 1989 auch auf die Straße gegangen sind,

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

einer vierten Gewalt, für deren Existenz wir Abgeordnete aller Fraktionen nicht dankbar genug sein können und die es nicht verdient hat, mit Treibjagden, Kampagnen und Hinrichtungen in Verbindung gebracht zu werden.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Allerdings wissen wir auch aus eigener Erfahrung: Die Presse hat nicht immer Recht.

(Ach! bei der SPD)

Genau wie wir bildet sie sich mitunter ihre Meinung auf der Basis von unvollständigen Informationen, Informationshäppchen, Halbwahrheiten. Nicht jedes Stück Papier ist echt. Und wenn - wie jüngst der Fall - davon die Rede ist, dass nicht das Vorhandensein, sondern das Fehlen von Unterlagen nicht näher spezifizierten Experten Vermutungen über ein fortdauerndes Zusammenwirken des Abgeordneten Dr. Luthardt mit der Stasi nach Ableistung des Wehrdienstes nahelegt, dann bewegen wir uns langsam im luftleeren Raum.

(Beifall der Abgeordneten Wöllert [DIE LINKE])

Ich warne nochmals eindringlich davor, hier jeden Maßstab zu verlieren. Gerade angesichts der aktuellen Stimmung, in der alle Abgeordneten mit DDR-Biografie in eine Rasterfahndung geraten zu sein scheinen, ist es zwingend erforderlich, zu einem geordneten Verfahren zu finden.

(Beifall SPD und DIE LINKE)

Deswegen kann ich auch nur dringend raten, den bereits nach der 1. Lesung in den Ausschuss überwiesenen Gesetzentwurf unserer Fraktion zur Grundlage einer 2. und 3. Lesung eines verbesserten Gesetzes zu nehmen und nicht erst mit einer neuen 1. Lesung weiterer Gesetzentwürfe in der dritten Dezemberwoche Zeit zu verlieren. Als Fraktion haben wir uns mit Forderungen an die Abgeordneten - Dr. Luthardt ist klar -, ihr Mandat zurückzugeben, bewusst zurückgehalten, auch wenn es uns insbesondere im Fall von Frau Stobrawa schwerfällt, die Unschuldsvermutung aufrechtzuerhalten - angesichts der von der Birthler-Behörde aufgedeckten Aufstiegshistorie vom IM zum Sicherungs-IM und weiter zum Ermittlungs-IM. Da wir nicht so recht an Gedächtnislücken glauben können, fordern wir ein geordnetes Verfahren ein. Auch wir finden es inakzeptabel, dass betroffene Abgeordnete und ihre Fraktionskollegen zu Zeitungsredaktionen gehen müssen, um Einsicht in ihre Akten zu nehmen.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Die Salamischeiben-Kultur lehnen wir ab. Auch wir finden es nicht hinnehmbar, dass der Präsident des Landtages die bereits öffentlich zirkulierenden Unterlagen erst im Nachhinein bei der Stasiunterlagenbehörde anfordern muss und möglicherweise nicht bekommt. Falls hier das Stasiunterlagengesetz geändert werden muss, sollten wir dies auch gemeinsam einfordern. Aber wir appellieren an alle Abgeordneten, das heißt auch an Frau Stobrawa, mit Offenbarungen nicht erst bis zum allerletzten Moment zu warten und darauf zu hoffen, dass belastende Materialien und Beweisstücke vernichtet wurden. Der Weg von Frau Adolph, sich eine intensivere Durchleuchtung zu ersparen, ist natürlich eine gangbare Alternative, letztendlich aber auch unbefriedigend, wenn man ein Aufklärungsinteresse der breiten Öffentlichkeit zugrunde legt.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! „Mit unserer politischen Arbeit wollen wir dazu beitragen, unser Land zusammenzuhalten und noch mehr zusammenzuführen“, heißt es in Ihrer Regierungserklärung. In der Diktion Ihres erklärten Vorbildes Johannes Rau hieß das einst „Versöhnen statt Spalten“. Aber prüfen Sie selbst: Sind Sie diesem Anspruch gerecht geworden? Mit Blick auf die von Ihnen geforderte Versöhnung sagte Herr Dellmann - ist er da? -,

(Dellmann [SPD]: Ja!)

Sie können ja dann widersprechen - laut Zeitung „PNN“, wörtliches Zitat vom 27.11.: „Es ist nicht die Zeit, über Versöhnung zu sprechen, solange es bei den Linken keine ehrliche, abgeschlossene Aufarbeitung der Vergangenheit gibt, solange nicht die Ergebnisse der Stasiüberprüfung des Landtages vorliegen.“ Wir Bündnisgrünen haben eine klare Auffassung: Versöhnung setzt Aufklärung voraus. Ohne Aufklärung keine Versöhnung.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)

Mal abgesehen davon - das haben Sie sehr schön deutlich gemacht, Frau Kaiser -, dass Versöhnung nicht zwischen Organisationen und Institutionen, sondern nur zwischen Menschen erfolgen kann - das ist ein Gedanke, der übrigens allen Versöhnungskommissionen, sei es in Südafrika oder sonstwo, zugrunde liegt -, erfordert dies, dass die Täter zu ihrer Tat stehen und diese auch offenbaren. Nur in Kenntnis dessen, was sich wirklich zugetragen hat, kann man hoffen, dass frühere Opfer verzeihen. Einfordern kann man das nicht. Der Staatssicherheitsdienst der DDR hatte 91 000 hauptamtliche Mitarbeiter. Jeder hundertste Erwachsene der DDR war hauptamtlich dort beschäftigt. Das ist ein Weltrekord, der nicht einmal von Albanien überboten wurde. 189 000 Menschen waren als IM in allen Schattierungen geführt. Das war ungefähr jeder fünfzigste Erwachsene. Aber IM zu sein war nichts Normales. Es blieb etwas Besonderes im negativen Sinne. Es waren eben nicht 10 %, 15 % oder gar 30 % der Bevölkerung Stasi-IM, wie man beim Blick auf eine Fraktion dieses Hauses vermuten könnte.

(Lachen bei der CDU)

IM hatten in der Bevölkerung kein hohes Ansehen. Man wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Ein IM offenbarte sich nicht in seinem Freundeskreis, ja nicht einmal gegenüber seiner Lebensgefährtin, wie wir seit dem Fall Wollenberger wissen. Das beste Mittel der Stasi, um einen politischen Gegner von
seinen Freunden zu isolieren, war daher, das Gerücht in die Welt zu setzen, bei XY handele es sich um einen Stasispitzel. Wer Versöhnung will, muss daher als Allererstes klarstellen, dass Spitzelei nichts Normales ist. Wer Aufklärung und Versöhnung will, muss aber auch deutlich machen, dass die DDR nicht von IMs, diesem Heer von Befehlsempfängern der niedrigsten Stasikategorie, deren Entlohnung häufig genug aus Taschengeld und Ruhla-Uhren bestand, geführt wurde. Über dem IM stand der hauptamtliche Führungsunteroffizier, über diesem der Offizier. Aber alle unterstanden der Partei. Das MfS verstand sich als „Schutz und Schild der Partei“, nicht als eine dem Gemeinwohl der DDR-Bürger verpflichtete Wohlfahrtseinrichtung.

Es ist eine völlige Verharmlosung des DDR-Systems, es ist letztendlich geschichtliche Verklärung, wenn seit einiger Zeit nur noch auf die untersten Befehlsempfänger mit dem Finger gezeigt wird, die gesamte SED-Nomenklatura und deren Freunde in der Nationalen Front aber außen vor bleiben.

(Allgemeiner Beifall)

Versöhnung setzt Erinnerung voraus. Das haben Sie auch gesagt, Herr Ministerpräsident. Dies bedeutet den politischen Auftrag an uns alle, bei den nachrückenden Generationen in Erinnerung zu halten, wie die SED-Diktatur funktionierte und welche menschlichen Kosten sie verursachte, um so unseren Beitrag zu leisten, dass ein nochmaliges Aufleben des damaligen real existierenden Sozialismus in welcher Farbgebung auch immer nicht mehr möglich wird. Deswegen ist uns auch die Bildung einer Enquetekommission zur Aufarbeitung dieser Zeitenwende ein Anliegen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten Tagen geisterte die Forderung nach Neuwahlen durch den Raum. Wir halten dies für einen Irrweg.

Die vergangenen Tage und Wochen zeigen erstmals ein riesiges Interesse an einer politischen Aufarbeitung des Themenkomplexes Staatssicherheitsdienst. Wir haben eine geradezu extreme Aufklärungssituation, die wir positiv zur Stärkung unserer politischen Kultur verwenden können. Dazu gehört aber grundlegend die Bereitschaft, Differenzierungen auch zuzulassen und auf Holzhammerrhetorik zu verzichten. Mit Neuwahlen würde dieser Prozess abrupt gestoppt. Wir würden in einen Wahlkampf schlittern, der nur von einem Thema beherrscht wird: Stasi, Stasi, Stasi.

Heraus käme dabei wahrscheinlich nicht einmal die von den Neuwahlbefürwortern gewünschte Mehrheit. Alle Zukunftsthemen, die der Landtag in den nächsten fünf Jahren in Angriff nehmen müsste, würden im Wahlkampf unter den Tisch fallen. Bis zur Neuwahl würde eine Regierung, die sich gerade mühsam erst einmal ihre Regierungsfähigkeit erarbeiten muss, in lähmende Agonie verfallen. Dies wollen wir dem Land nicht zumuten.

Die Wähler haben diesen Landtag gewählt. Rot-rot hat diese Regierung gebildet. Jetzt trägt rot-rot, jetzt tragen Sie auch die Hauptverantwortung dafür, dass die versprochene politische Neuausrichtung in diesem Land stattfindet. Sie haben Ihren Beitrag dafür zu leisten, dass das Land und die politische Kultur in Brandenburg in der lange überfälligen und jetzt endlich angestoßenen Debatte keinen Schaden nehmen, sondern gestärkt daraus hervorgehen.

Wir werden nicht dazu beitragen, dass Sie sich mit Neuwahlen dieser Verantwortung entledigen können.
Oppositionsarbeit setzt die Existenz einer Regierung voraus.

(Lachen bei der CDU)

Wir Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben diese Oppositionsaufgabe angenommen. Wir können nicht auch noch für Sie die Regierung übernehmen.

(Lachen bei der CDU - Beifall GRÜNE/B90 und CDU)

Wir wollen, dass in diesem Land endlich wieder Regierungshandeln stattfindet. Also: Fangen Sie an!

(Beifall GRÜNE/B90, CDU, SPD sowie DIE LINKE)