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Ursula Nonnemacher spricht zu unserem Antrag „Die psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen im Land Brandenburg verbessern“

>> Zum Antrag (pdf-Datei)

- Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede!

Lassen Sie uns einmal kurz vorstellen, wie es wäre, wenn täglich die gesamte Bevölkerung aus Städten wie Oranienburg oder Falkensee fliehen würde. Das wären ungefähr 43 000 Menschen. So viele gehen weltweit täglich auf die Flucht. Davon sind die Hälfte Kinder. Sie fliehen, natürlich nicht aus Falkensee oder Oranienburg, sondern aus Syrien, Eritrea, Somalia, dem Irak, Afghanistan. Sie fliehen vor Krieg, bewaffneten Konflikten, staatlich organisierter Gewalt, politischer oder religiös motivierter Verfolgung und Vertreibung. Mehr als 43 000 Menschen verlassen täglich mit ihrer Heimat auch ihre Wurzeln, ihre Verwandten und FreundInnen, ihre Sprache und ihre Arbeit.

Zu diesen schrecklichen Ursachen von Flucht und Vertreibung kommen die oft katastrophalen Zustände während der Flucht. Zum Alltag der Flucht gehören Hunger und Durst. Zum Alltag der Flucht gehört, dass Menschen von ihren Familienangehörigen getrennt werden, dass sie von kriminellen Schlepperbanden drangsaliert und verletzt werden, dass vor allem Frauen und Mädchen sexualisierte Gewalt angetan wird. Zum Alltag der Flucht gehört auch, dass Menschen in seeuntaugliche Boote steigen und dort eine existentielle Angst um das eigene Leben und das Leben ihrer Kinder aushalten müssen. Einige Flüchtlinge kommen nach ihrer ungewissen und gefährlichen, manchmal Monate bis Jahre dauernden Reise in Brandenburg an. Hier haben sie das Recht auf Schutz und das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Diese Realität könnten wir jetzt einfach anerkennen. Wir können sie aber auch aktiv mitgestalten, indem wir den Flüchtlingen die Möglichkeit eines Neubeginns bieten.

Es liegt auf der Hand, dass die Psyche von Menschen an Erlebnissen von Kontrollverlust und Ausgeliefertsein leidet. Glücklicherweise ist die menschliche Psyche erstaunlich robust. Zwar entwickeln sich bei Geflüchteten häufig seelische Trauma-Folgen. Auch für andere psychische Störungen werden sie anfälliger, beispielsweise für Depressionen, Angsterkrankungen oder psychosomatische Beschwerden.

Aber bei weitem nicht alle Flüchtlinge benötigen langfristige psychotherapeutische Hilfen. Ein echter Neubeginn ist aber nur möglich, wenn wir frühzeitig Hinweise darüber aufnehmen, ob und wie viel psychosoziale Unterstützung ein Flüchtling für die Bewältigung der vergangenen Erfahrungen braucht. Das erfolgt zurzeit nicht, jedenfalls nicht systematisch. Wir haben darüber in den letzten Wochen mit vielen Fachleuten gesprochen, die sich beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, bei der Kooperation für Flüchtlinge in Brandenburg oder dem Dachverband Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge engagieren. Sie alle teilen unsere Einschätzung: Wir müssen die psychosoziale Diagnostik und Versorgung von Flüchtlingen in Brandenburg endlich auf verlässliche Füße stellen!

Dafür brauchen wir ein abgestuftes Konzept der psychosozialen Versorgung. Auf der ersten Stufe steht ein professioneller Blick auf die emotionale Verfassung der Flüchtlinge relativ schnell nach deren Ankunft. Dazu werden geeignete Strukturen und Begutachtungsinstrumente benötigt. Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass klinisch geschulte SozialarbeiterInnen in den Erstaufnahmeeinrichtungen und den Gemeinschaftsunterkünften arbeiten. Sie können Hinweise auf einen psychosozialen Unterstützungsbedarf erkennen. Ehrlich gesagt muss aber auch erstmal grundsätzlich die Anzahl von SozialarbeiterInnen erhöht werden. Wenn eine SozialarbeiterIn AnsprechpartnerIn für 120 Flüchtlinge ist, kommt ein vertrauensvolles Gespräch doch gar nicht erst in Gang, ist ein sensibler Blick für Traum-Folgen gar nicht möglich.

Auf einer so breiten ersten Stufe werden bereits viele Sorgen und Probleme aufgefangen. Die zweite Stufe darf schon schmaler sein. Bei schwerwiegenderen Problemen brauchen die betroffenen Flüchtlinge Zugang zu professioneller psychotherapeutischer Unterstützung. Die Landesregierung sieht hier die Regelsysteme, vor allem die Psychiatrischen Institutsambulanzen, in der Pflicht. Das ist gesundheitspolitisch gesehen sinnvoll und bedeutet, die Realität anzuerkennen. Die Realität aktiv zu gestalten bedeutet hingegen, hinzuschauen und zu sehen, dass das in der Praxis im Moment einfach nicht gut funktioniert. Fehlendes Wissen um die Zugangsmöglichkeiten auf Seiten der Flüchtlinge und Sprachbarrieren erschweren die Behandlung, genau wie Unsicherheiten aufgrund fehlender Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit verschiedenen kulturellen Zugehörigkeiten. Zu einem sinnvollen Behandlungskonzept passt auch nicht, dass Psychiatrische Kliniken Betroffene in Krisen zwar aufnehmen können, aber die wichtige Nachsorge nicht leisten dürfen. In dieser diffusen Gemengelage verweisen die MitarbeiterInnen der Psychiatrischen Institutsambulanzen oft an Behandlungsstellen in Berlin. Wir wollen, dass die Regelsysteme so unterstützt und vernetzt werden, dass die Hilfe auch bei den Menschen ankommt!

Der Handlungsbedarf ist hoch. In diesem Sommer wird die neugefasste Flüchtlingsaufnahmerichtlinie der EU umgesetzt. Mit ihr erhalten wir von außen den Auftrag, Flüchtlinge mit seelischen Leiden zu identifizieren und diese besonders zu unterstützen. Es wird sehr schwierig, diesen Auftrag zu erfüllen, solange die Regelsysteme noch nicht greifen. Deswegen brauchen wir zusätzliche professionelle psychosoziale Angebote! Sie sollen die dritte Stufe der psychosozialen Versorgung bilden, mit hochspezialisierten Kenntnissen bei der Ermittlung, Beratung und Versorgung von psychisch erkrankten Flüchtlingen. In Brandenburg leisten sechs Träger genau diese Aufgabe. Obwohl die dritte Stufe vergleichsweise klein sein kann, ist die momentane Größe des Angebots wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Brandenburg bildet damit im bundesweiten Vergleich ein Schlusslicht. Alarmierend ist, dass die Finanzierung dieser Angebote durch europäische Fonds jetzt überraschenderweise wegfällt. Ohne diese Mittel können die Träger das Angebot nicht aufrechterhalten. Das ist eine Katstrophe für die betroffenen Menschen. Das ist auch schlecht für das Land. Wenn die Angebote eingestellt werden, gehen die Fachkenntnisse und Erfahrungen der MitarbeiterInnen und Träger verloren, die wir für die inhaltliche Ausgestaltung und Umsetzung der EU-Richtlinie unbedingt benötigen. Wir bitten die Landesregierung deswegen dringend, diese wenigen Beratungsangebote zu sichern. Bitte prüfen Sie die Möglichkeit der Finanzierung aus den zugesagten Bundesmitteln für 2016, die jetzt auf dieses Jahr vorgezogen werden.

Ein Neubeginn für Flüchtlinge braucht einen Neubeginn für das psychosoziale Versorgungskonzept. Wir können auf viele gute Ansätze aufbauen. Dann gestalten wir aktiv die Realität und kommen zwei Aufträgen entgegen, unserem humanitären und dem der EU!

>> Zum Antrag (pdf-Datei)

Der Antrag wurde in den Ausschuss für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen überwiesen.