Zum Inhalt springen

Hinweis: Diese Website wird nicht mehr aktualisiert und dient als Archiv. Weitere Informationen →

Marie Schäffer spricht zum Antrag „Ein Landesaufnahmeprogramm für Brandenburg“

- Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

meine Damen und Herren.

Brandenburg ist nicht Hollywood, aber in Brandenburg gibt es die Babelsberger Filmstudios und dort werden richtig gute Filme gemacht.

Stellen Sie sich folgende Szene vor:

Wir schreiben das Jahr 1946, der Krieg ist noch nicht lange vorbei. Eine Familie mit vier Kindern hat die letzten Tage in verschiedenen Sammellagern verbracht, ist erst mit dem Pferdewagen, dann im Viehwaggon aus der alten Heimat geflohen.

Und dann kommt das Signal zum Aufbruch: "Ein Zug wird sie in eine 'neue Heimat' bringen!"

Mit wenig Gepäck muss die gesamte Familie in eine ungewisse Zukunft aufbrechen. Das Notquartier in einer Schule - kalt, zunächst nur mit Stroh auf dem Boden für ein Schlaflager, Essensrationen, die kaum zum Überleben reichen. Die gerade geflüchteten müssen neben allem anderen auch mit Skepsis und Vorurteilen aus der Stadtgesellschaft leben, die von dem wenigen, was ihnen nach dem Krieg bleibt nun auch noch etwas abgeben sollen. Dieses neue Leben, in das sie aufbrechen mussten, es dauert lange, bis sie es sich wirklich aufgebaut haben.

Andere Szene:

Es ist Bürgerkrieg und eine 19-jährige eine ehrgeizige Schülerin muss mit ihrer Familie nach Ägypten fliehen. Ohne Arbeitserlaubnis lebt sie am Rande der Gesellschaft.

Trotzdem ist Doaa hoffnungsvoll, verliebt sich in Bassem, der um ihre Hand anhält. Gemeinsam beschliessen sie Sicherheit in Europa zu suchen, um sich ein gemeinsames Leben aufzubauen. Alles Ersparte geht an Schmuggler für ein überfülltes Fischerboot und einen verzweifelten Funken Hoffnung.

Am vierten Tag lassen die Schmuggler die verzweifelten Flüchtenden in einem sinkenden Boot auf dem Meer zurück. Die 300 Menschen, die unter Deck gefangen waren, hatten keine Chance zu überleben.

Doaa hört, wie Menschen schreien, sieht wie ein Kind vom Propeller in Stücke zerrissen wird. Um sie herum schwimmen hunderte Leichen.

Doaa überlebt dank eines Rettungsrings, Bassem und viele andere ertrinken vor ihren Augen.

Ein langer Tag vergeht, dann ein weiterer. Irgendwann sieht Doaa ein Handelsschiff. Zwei Stunden schreit sie um Hilfe, bis die Suchscheinwerfer des Schiffes sie finden. Von den zwei kleinen Kindern, die sie vor dem Ertrinken retten konnte, stirbt eines noch an Bord des Schiffes. Doch Doaa und die kleine Masa haben überlebt.

Meine Damen und Herren,

wie Sie richtig vermuten geht es in den beiden Szenen nicht wirklich um einen Film. Die erste Szene wurde mir von meiner Großmutter erzählt, die zweite Szene können Sie ausführlich als Buch mit dem Titel "Doaa - Meine Hoffnung trug mich über das Meer" nachlesen oder in der Kurzfassung auf der Webseite des UNO-Flüchtlingshilfswerks.

Über 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs sind Menschen immer noch auf der Flucht und noch immer hat die Welt keine Lösung für die alltägliche Tragödie gefunden. Stattdessen ziehen die Länder, denen es gut geht, ihre Grenzen immer enger, höhlen das Grundrecht auf Asyl mehr und mehr aus.

Auch meine Großeltern waren einst auf der Flucht, hatten alles verloren und mussten ihr Leben neu aufbauen. Jetzt wo es Deutschland wirtschaftlich wie sozial gut geht ist es, so bin ich fest überzeugt, ein Gebot der Menschlichkeit, dass wir unseren Beitrag leisten, so klein er im Vergleich zu den Problemen der Welt auch sein mag.

Wir können hier von Brandenburg aus nicht die Welt retten. Wir können weder die regionalen und geopolitischen Ursachen von Flucht beenden noch alle Geflüchteten der Welt aufnehmen.

Aber das, was wir tun können, um das Leid auf der Welt zumindest ein wenig zu lindern und einigen besonders gefährdeten Menschen einen Start in ein neues Leben zu ermöglichen, das sollten wir auch tun. Denn jeder einzelne Mensch, der sich aus Verzweiflung unmenschlichen Schleppern und seeuntüchtigen Booten anvertraut, ist einer zu viel.

Weltweit sind laut UNHCR 80 Millionen Menschen auf der Flucht, mehr als die Hälfte davon innerhalb ihres eigenen Landes.

Davor können und dürfen wir nicht die Augen verschließen, auch wenn uns nur ein

sehr bescheidener Beitrag zur Lösung der Gesamtproblematik möglich sein wird. Mit dem Landesaufnahmeprogramm für 200 besonders vulnerable, verfolgte und vor Krieg geflüchtete Menschen pro Jahr übernehmen wir hier in Brandenburg humanitäre Verantwortung. Die Kommunen haben die Kapazitäten und sind bereit sich dieser Verantwortung zu stellen.

Angesichts der Diskussionen der letzten Wochen und Monate um die Aufnahme von Geflüchteten ist der vorliegende Koalitions-Antrag heute ein starkes Signal.

Sicher kann Vieles in der Flüchtlingspolitik besser und schneller geregelt und vor allem noch konsequenter umgesetzt werden. Doch humanitäre Grundsätze und die Verpflichtung, verfolgten Menschen Schutz zur gewähren, müssen dabei weiterbestehen.

Meine Damen und Herren,

worüber wir heute beschließen ist ein Brandenburger Beitrag zum Resettlement-Programms des Bundes.

Im Rahmen des deutschen Resettlement-Programms wird seit 2012 jährlich ein Kontingent besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland aufgenommen.

Resettlement stellt ein international anerkanntes flüchtlingspolitisches Instrument dar und bedeutet die Neuansiedlung von durch UNHCR anerkannten, besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen in einem anderen Staat als dem Erstaufnahmestaat.

Für das Resettlement gibt es eine gesetzliche Grundlage. Die Schutzbedürftigkeit wird einzeln und nicht nur anhand von Erlebnisschilderungen überprüft. Die Dublin-Bestimmungen greifen bei dem Resettlement nicht. Ziel des Resettlement ist es, eine dauerhafte Lösung und Perspektive für geflüchtete Menschen zu schaffen, die langfristig weder eine Perspektive auf Rückkehr in ihr Herkunftsland noch auf Integration im Erstaufnahmeland haben. Resettlement ermöglicht damit besonders schutzbedürftigen Personen die legale und sichere Einreise in einen aufnahmebereiten Drittstaat.

Bei den Resettlementverfahren arbeitet die Bundesregierung eng mit UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) und der Internationale Organisation für Migration zusammen, die operative Umsetzung erfolgt durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Ich möchte an dieser Stelle noch kurz eingehen auf die Situation an der Europäischen Außengrenze, insbesondere in den Flüchtlingslagern auf den Griechischen Inseln. Dort leben innerhalb der Europäischen Union zehntausende Menschen unter unerträglichen Bedingungen - ohne ausreichende medizinische Versorgung, Zugang zu Bildung oder auch nur Wasser und aktuell zusätzlich unter Angst vor Corona, das sich im Lager rasant ausbreiten würde. Jean Ziegler vom UN-Menschenrechtsrat nannte es in seinem Buch treffend "Die Schande Europas".

Das hier beantragte Aufnahmeprogramm richtet sich nicht an die Geflüchteten in den griechischen Lagern, da für ein solches Programm eine Zustimmung des Bundes nicht absehbar wäre. Das ist bitter, denn für eine humanitäre Katastrophe innerhalb der EU sollten sich alle Europäischen Länder in besonderem Maße verantwortlich fühlen.

Das hier zu beschließende Programm setzt stattdessen früher an und richtet sich an besonders gefährdete Personen aus den Lagern außerhalb der EU. Wenn dadurch auch nur eine Person weniger das Schicksal von Doaa und ihren Weggefährten erleiden muss, dann sehe ich es als einen unschätzbaren Erfolg.

Meine Damen und Herren,

Deutschland setzt sein Engagement im Rahmen des EU-Resettlement-Programms fort und ermöglicht die Aufnahme von schutzbedürftigen Personen. Bisher war es das Ziel in 2020 bis zu 70.000 Menschen im Rahmen von Resettlement umzusiedeln, wobei dies aufgrund von der Covid-19-Pandemie nicht umsetzbar sein wird.

Schleswig-Holstein machte vor, wie ein wirksames Engagement auf Landesebene hier funktionieren kann. Dort können über das bereits 2018 beschlossene Landesaufnahmeprogramm jährlich bis zu 500 Menschen aufgenommen werden.

Alleine kann eine solche Aufgabe nicht bewältigt werden. Wir brauchen das Einvernehmen mit dem BMI, wir brauchen das Jahr 2020 um Vorbereitungen zu treffen, wir brauchen weitere professionelle und finanzielle Unterstützung und wir brauchen hier und heute Ihr Bekenntnis für die Menschlichkeit.

Im Jahr 2021 liegt der Resettlement-Bedarf bei rund 1,4 Mio. Plätzen weltweit.

Lassen sie uns heute hier im Landtag Brandenburg ein Zeichen setzen, dass wir unseren kleinen Beitrag leisten wollen zu dieser Weltweiten Anstrengung für humanitäre Verantwortung und Mitmenschlichkeit. Ich werbe daher ganz herzlich um Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen.

Vielen Dank!

· "Wer einem Menschen das Leben rettet, der rettet die ganze Welt" - Talmud