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Rede im Landtag: Bewerbung der Stadt Frankfurt (Oder) für Zukunftszentrum unterstützen

- Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrte Präsidentin, Liebe Kolleg*innen, liebe Zuschauer*innen,

wenn ich mit westdeutsch sozialisierten Menschen über das Ostdeutsch-Sein spreche, kommt immer wieder die Frage, worin das spezifisch ostdeutsche eigentlich wurzelt.

Ostdeutsch hier nicht rein geografisch, sondern in den Grenzen der ehemaligen DDR gedacht.

Da sind natürlich die 40 Jahre Teilung an sich, das Leben in verschiedenen Systemen. Aber das allein reicht nicht zur Erklärung.

Gerade als Bündnisgrüner betone ich erstens die besondere Erfahrung der friedlichen Revolution, in der die Bürger*innen einen ziemlich gut bewaffneten Staat friedlich in die Knie zwangen.

Dazu die Erfahrungen mit den sich anschließenden Aushandlungen wie es weitergeht, der Zentrale Runde Tische, der Entwurf einer neuen Verfassung. All das erlebten ein Großteil der Bevölkerung eben nicht nur am Fernseher oder aus der Zeitung, sondern unglaublich viele Menschen waren auf irgendeiner Ebene beteiligt.

Es gab eben nicht nur den Zentralen Runden Tisch! Sondern eine Vielzahl an Runden Tischen auf den verschiedensten Ebenen, an verschiedenen Orten. Und die, die dort saßen berichteten ja wiederum in ihre jeweiligen Gruppen, aus denen sie delegiert waren.

Bis Ende des Jahres 1989 unterschrieben etwa 200.000 DDR-Bürger allein den Aufruf des Neues Forums, daneben gab es viele weitere Gruppen wie Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, den Unabhängigen Frauenverband, Vereinigte Linke und viele, viele mehr.

Bei der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4.11.1989 nahmen eine Mio. Menschen teil, bei einer Einwohnerzahl von 16,5 Mio.!

Zur Gesamtbetrachtung gehören aber auch die Enttäuschungen, dass vieles davon nicht zu Ende geführt wurde, von den Ereignissen überholt wurde, indem der Status quo der BRD einfach auf den Raum der DDR ausgedehnt wurde. Es wurde eben keine neue Verfassung erarbeitet, wie es ja auch Artikel 146 des Grundgesetzes ermöglicht hätte…

In der gesamten Entwicklung vorwärts, die insgesamt ja gut lief, gab es eben auch Rückschritte, wie beim Thema Abtreibungsrecht, bei dem manches neu erkämpft werden muss, wie der dieses Jahr abgeschaffte §219a im Strafgesetzbuch.

Nun, die friedliche Revolution und die Wiedervereinigung diskutiert, haben wir dann ab 1990 eine bundesdeutsche Entwicklung genommen, und das distinktive Ostdeutschsein erklärt sich nur aus der Zeit bis zur Wiedervereinigung? Nein! Wer die ostdeutsche Seele verstehen will, muss neben der demokratischen Transformation auch auf die anschließende Transformation schauen.

Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft führte zu einer beispiellosen, nennen wir es Bewegung, auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Bis 1992 ging ein Drittel der Arbeitsplätze verloren, 10 Prozent der neuen Arbeitsplätze waren subventioniert. Aber der reine Blick auf die Quantität der Arbeitsplätze reicht nicht.

Etwa 2/3 mussten den Betrieb verlassen, in dem sie 1989 gearbeitet hatten. Bis 1996 waren rund 40% mindestens einmal arbeitslos und mehr als die Hälfte wechselte bis 1996 erneut den Arbeitsplatz. Berufliche Abstiege waren dabei fast doppelt so häufig wie Aufstiege. Darüber hinaus gab es regionale Hotspots wie die Braunkohleregion Lausitz.

Was die ostdeutsche Transformation dabei so besonders macht, ist, dass wir mit Westdeutschland einen starken Partner hatten, während die anderen Länder des Warschauer Paktes, z.B. Polen, allein durch diese Transformation mussten. Ich komme später darauf zurück.

Das war gut, hatte aber auch Schattenseiten, z. B. weil die Möglichkeit der Abwertung der Währung nicht möglich war und viele Betriebe einfach von jetzt auf gleich unwirtschaftlich wurden.

Auch folgte daraus ein Repräsentanz-Problem. Wo man hinschaut, an die Unis, in die Justiz, in Politik und Verwaltung: überall sind Ostdeutsche statistisch deutlich unterrepräsentiert.

Bei all den Schwierigkeiten hatten wir mit Westdeutschland aber, wie gesagt, einen starken Partner, der den Osten finanziell großzügig unterstützt hat, und nicht nur finanziell, sondern auch bei der Integration ins BRD-Rechtssystem und beim Aufbau der Institutionen. Insgesamt ist damit die Deutsche Einheit gut gelungen. Dafür gilt Westdeutschland unser Dank der Ostdeutschen!

Die Kommission '30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit' hat nun in ihrem Abschlussbericht empfohlen, dass bis 2028 in Ostdeutschland ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ entstehen soll.

Dieses soll interdisziplinär Transformationsprozesse in Deutschland sowie in Mittel- und Osteuropa erforschen und dazu den Austausch mit einer breiten Öffentlichkeit organisieren.

Ich finde, das ist eine großartige Idee! Aus den Transformationsprozessen für anstehende Herausforderungen lernen. Und viele, auch ich, haben dann sofort an Frankfurt (Oder) gedacht! So viel spricht für diese Stadt!

Natürlich hat Frankfurt (Oder) die DDR, die friedliche Revolution und Wende sowie die anschließende Transformation durchlebt.

Zusammen mit Słubice ist Frankfurt darüber hinaus eine europäische Doppelstadt und kann die europäische Dimension einbringen. Gerade die Erfahrungen mit den gleichen Umbrüchen, mit den Gemeinsamkeiten aber auch den Unterschieden in der DDR, in Polen und Mittel- & Osteuropa laufen hier geografisch zusammen.

Außerdem gibt es mit der Europa-Universität Viadrina im Herzen der Stadt und dem Collegium Polonicum am anderen Flussufer, einen renommierten und internationalen Bildungs- und Wissenschaftsstandort.

Und wissen Sie was dort u.a. erforscht wird? Ausgerechnet werden dort grenzüberschreitend und vergleichend Transformationsprozesse erforscht! Wie passend! Es bestehen also auch hervorragende wissenschaftliche Anknüpfungspunkte!

Frankfurt ist auch die einzige Bewerberin, die gleich von mehreren Bundesländern unterstützt wird – von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.

Aber auch aus der Bürgerschaft erfährt Frankfurts viel Unterstützung, z. B. über die Kampagne unter dem Motto „Stadt der Brückenbauer“.

Es haben sich schon zahlreiche Prominente aus Kultur, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft beteiligt, aber auch hunderte Frankfurterinnen und Frankfurter sprechen ihre Begeisterung und Unterstützung für die Bewerbung aus und sind selbst zu Brückenbauer*innen geworden. Wenn Sie noch nicht dabei sein sollten, gehen Sie auf stadt-der-brueckenbauer.de und bringen dort Ihre Unterstützung zum Ausdruck!

Lassen Sie uns also die Bewerbung Frankfurts auch unterstützen. Frankfurt kennt sich aus: mit der Transformation, mit dem Brückenbauen und dem Brückenschlagen - über Generationen, Kulturen, Grenzen, den Fluss.

Direkt an der Oderbrücke gelegen, die in unserer Stadt für so vieles symbolisch steht – für Jahre von unüberwindbaren Grenzen und für Trennung, jedoch auch für Versöhnung, für Übergang, für Fortschritt und das Zusammenwachsen.

Gerade in der jetzigen Zeit, braucht es neue und innovative Orte der Begegnung und Räume für Dialog. Also wo, wenn nicht an diesem Ort, lassen sich gedankliche Brücke schlagen, Ideen miteinander verbinden und neue entstehen lassen?

Es ist ein Projekt mit großer Strahlkraft, das eine nachhaltige Entwicklung für die Stadt, die Uni und die Region bedeuten würde.

Ich bin überzeugt, dass Frankfurt die besten Aussichten hat, das Zukunftszentrum nach Brandenburg zu holen. Unterstützen Sie also die Bewerbung, mit Zustimmung zum vorliegenden Antrag und mit Unterstützung der Kampagne „Stadt der Brückenbauer“!

Weiterführende Informationen

Rede zu: Antrag "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation - Bewerbung der Stadt Frankfurt (Oder) unterstützen" (TOP 3 der 72. Plenarsitzung)