Rita Süssmuth war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (ab 1986 auch Frauenministerin) und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Die CDU-Politikerin, über die die Süddeutsche Zeitung kürzlich schrieb, sie habe „der CDU den Feminismus beigebracht“, hat mit uns über den Stand der Gleichberechtigung gesprochen.
Frau Süssmuth, wie weit ist Ihrer Meinung nach die Gleichberechtigung im Jahr 2017 umgesetzt?
Wir haben im frauenpolitischen Diskurs über die vergangenen Jahrzehnte vieles erreicht. Uns Frauen ist es gelungen, von Bittstellerinnen zu Rechtsansprüchen zu kommen, indem wir aus unseren Forderungen konkrete gesetzliche Neuregelungen formuliert haben. Frauen besitzen heute eine berufliche Kompetenz, die uns lange Zeit abgesprochen worden ist. Sie leisten Entscheidendes, und das nicht nur in so genannten „frauentypischen“ Berufen, sondern auch im wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Bereich, nicht zu vergessen in Wirtschaft und Management.
Woran hapert es noch?
Von der praktischen Umsetzung ihrer Rechte sind Frauen immer noch weit entfernt. Die Diskrepanz zwischen ihrer Kompetenz und ihrer tatsächlichen beruflichen Stellung ist inakzeptabel. Sie arbeiten wesentlich häufiger als Männer in Teilzeit, in geringfügigen oder nichttariflichen Beschäftigungsverhältnissen, oder sie sind überqualifiziert. Heute sind 72 Prozent der Frauen erwerbstätig, aber sie tragen im Schnitt nur 21 Prozent zum Familieneinkommen bei. Deutschland debattiert seit Mitte der 60er Jahre über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hat aber den Wandel im Selbst- und Rollenverständnis der Geschlechter zu lange einseitig auf die Frauen bezogen. Die Antworten lauteten: Freistellung von der Erwerbsarbeit im frühen Kindesalter, Kinder- und später auch Elterngeld, Teilzeit und geringfügige Beschäftigung mit sehr geringem Ausgleich in der sozialen Sicherung. Es fehlen Krippen, Ganztagsplätze im vorschulischen und schulischen Bereich mit gut ausgebildeten Fachkräften. Notwendig ist der Rechtsanspruch auf Rückkehr von familiär begründeter Teilzeit auf Vollzeit. Hinzu kommt die soziale Ausgleichssicherung über „Bürgergeld“ oder „Grundsicherung“. Um diese Ziele zu erreichen, müssen wir Frauen uns stärker solidarisieren.
Wie kann Bundesgesetzgebung auf bessere Gleichstellung hinwirken?
Ohne gesetzliche Quoten wären wir nie so weit gekommen. Auch für die politischen Mandate ist inzwischen eine 50-Prozent-Quote unerlässlich. Wir müssen jetzt die volle Parität fordern, denn die Umsetzung der Gleichberechtigung geschieht nicht über Nacht. Als ich Mitte der 80er Jahre ins Parlament kam, waren dort nicht mehr Frauen in Mandaten vertreten als 1919. Vor allem müssen wir aber von der primären Maßnahme der Teilzeitarbeit wegkommen. Für mich sind Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung Akte der Diskriminierung, denn durch sie werden Frauen strukturell benachteiligt. Dass es auch anders geht, zeigen die nordeuropäischen Staaten.