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„Eine rote Linie überschritten“ - Clemens Binninger zur Anwerbung des V-Mannes "Piatto"

Mit der Anwerbung des V-Mannes „Piatto“ im Jahr 1994, der damals wegen eines Mordversuchs in Untersuchungshaft saß, „hat der Rechtsstaat eine rote Linie überschritten und sowas darf sich nicht wiederholen“. Das hat Clemens Binninger (CDU), der Vorsitzende des „NSU“-Untersuchungsausschusses im Bundestag am 19. Dezember 2016 als Sachverständiger vor dem brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss gesagt.

Carsten Szczepanski alias „Piatto“, ein V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes, hat 1998 von dem untergetauchten Trio berichtet, das heute als eine Art Kerntrio des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ bekannt ist. Nach seinen Informationen suchte der Chemnitzer Neonazi-Kader Jan Werner, ein führender Funktionär des „Blood & Honour“-Netzwerks, nach Waffen für die drei untergetauchten Rechtsextremisten. Und jener Jan Werner erkundigte sich bei Szczepanski per SMS: „Was ist mit den Bums“? Binninger: „Das könnte man auch so verstehen, dass der Adressat für die Bums zuständig war.“

LKA identifizierte Handy des Innenministeriums Brandenburg

Den Adressaten identifizierte das Thüringer Landeskriminalamt bei der Auswertung seiner Abhörmaßnahme gegen Jan Werner als den Nutzer eines Handys, das auf das Innenministerium Brandenburg zugelassen war. Zu diesem Zeitpunkt soll die Verfassungsschutzbehörde dieses Diensttelefon des V-Mannes „Piattos“ bereits eingezogen gehabt haben, weil es schon vorher bei einer Telekommunikationsüberwachung aufgefallen war. Wenige Stunden, bevor die Nachricht „mit den Bums“ einging, soll „Piatto“ das Handy zurückgegeben haben.

Binninger empfahl dem Ausschuss, zu untersuchen, in welchem Zustand das Handy nach der angeblichen Rückgabe an die Verfassungsschutzbehörde war. Denn es wurde im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung nach diesem Zeitpunkt nicht nur der Eingang von Jan Werners SMS festgestellt, sondern möglicherweise auch noch eine Werbe-SMS des Providers, wie Binninger berichtete.

Wurde „Piattos“ Diensttelefon vom Verfassungsschutz ausgewertet?

Was ist mit dem Handy passiert, falls es der Verfassungsschutz zurückgenommen hat? „Irgendjemand nimmt das Handy wohl in die Hand – hoffe ich doch“, sagte Binninger. Es gelte die Frage zu klären: „Wurde da nochmal draufgeschaut?“ Zudem wies der NSU-Aufklärer aus dem Bundestag darauf hin, das den Szene-Kontakten eines V-Mannes ja irgendwann die neue Telefonnummer mitgeteilt werden müsse, wenn seine Erreichbarkeit wechsle. Jan Werner scheint Szczepanskis neue Nummer aber noch nicht gehabt zu haben, als er sich am Abend des 25. August 1998 nach „den Bums“ erkundigte.

Kurze Zeit später berichtete „Piatto“, dass Werner für das Trio Waffen suche, das damit einen „weiteren Überfall“ plane (wobei bis heute kein Überfall vor diesem Zeitpunkt bekannt ist, der dem „NSU“ zugeordnet werden kann). Diese Information gab die brandenburgische Verfassungsschutzbehörde an die Kolleginnen und Kollegen in Sachsen und Thüringen weiter.

Marx berichtete von „Beschränkungen des Innenministeriums“

Die Thüringer Verfassungsschützer sollen die Information weitergegeben haben: Die Thüringer Untersuchungsausschuss-Vorsitzende Dorothea Marx (SPD) berichtete als Sachverständige vor dem Ausschuss in Potsdam von einer „lediglich mündlich erfolgten Unterrichtung einer verantwortlichen Person im Thüringer Landeskriminalamtes am Abend des 16. September 1998“, die „im Wesentlichen auf den durch das Innenministerium Brandenburgs vorgegebenen Beschränkungen beruhte“. Die „brisanten Informationen“ hätten aber „wegen fehlender Steuerung innerhalb des TLKA die zuständigen Sachbearbeiter der Abteilung Zielfahndung nicht erreicht“.

Der informierte TLKA-Vertreter soll eine schriftliche Information eingefordert haben. Darum ging es am 17. September 1998 bei einem Treffen der Verfassungsschutzbehörden Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Ein Protokoll der Unterredung ist bisher nicht bekannt, nur ein Vermerk des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz.

Wer ist Zeuge oder Zeugin des Verfassungsschutz-Treffens?

Der brandenburgische Untersuchungsausschuss weiß bisher nicht einmal, wer an diesem Treffen teilgenommen hat. Die bündnisgrüne Obfrau Ursula Nonnemacher fragte deshalb den Vorsitzenden des ersten NSU-Untersuchungsausschusses in Sachsen, Patrick Schreiber (CDU). Auch er war als Sachverständiger vor dem brandenburgischen Untersuchungsausschuss. Er konnte sich aber nicht daran erinnern, ob dem sächsischen Ausschuss die Namen ungeschwärzt vorlagen.

Die Thüringer Vorsitzende Marx berichtete, was der sächsische Verfassungsschutzpräsident Gordian Meyer-Plath über den damaligen Vorgang mitgeteilt habe. Meyer-Plath sei 1998 Referent im Bereich „Beschaffung“ der Verfassungsschutz-Abteilung des Innenministeriums Brandenburg gewesen. In seiner Vernehmung vor dem Thüringer Untersuchungsausschuss am 7. Oktober 2013 führte er laut Dorothea Marx aus, „dass die Besprechung am 17. September 1998, an der er selbst nicht teilgenommen hatte, aus seiner Sicht in fünf Punkten nicht optimal gelaufen sei“:

Was aus Sicht des Verfassungsschützers Meyer-Plath nicht optimal lief

Zum einen könne er keine prägende Rolle des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) feststellen, welches wegen des Auslandsbezuges und der Involvierung von mindestens zwei Bundesländern sofort eine federführende und koordinierende Rolle hätte einnehmen müssen. Zweitens hätte es in Anbetracht der Brisanz der Geschehnisse im Hinblick auf Waffen, Banküberfälle und Auslandsbezug einer gemeinsamen Protokollierung des Gespräches bedurft und drittens hätten Folgetreffen stattfinden müssen, um zu bewerten, ob die vereinbarten Maßnahmen die Suche nach den Untergetauchten weitergebracht hätten. Ferner hätten das Landeskriminalamt Sachsen und das TLKA bereits an einer Besprechung beteiligt werden müssen, um zu prüfen, welche Informationen welcher Akteur für die Ergreifung von Maßnahmen benötigt. Schließlich sei ihm aufgefallen, dass von Seiten des LfV Brandenburg lediglich zwei Beschaffer an der Besprechung teilgenommen hätten und die Abteilung Auswertung nicht beteiligt gewesen sei, obwohl letztere die Gesamtschau habe und wirklich wisse, welche Erkenntnisse möglicherweise noch vorhanden waren, die es vielleicht sogar noch mehrerlaubt hätten, eine quellengeschützte Erkenntnis zu öffnen.

Clemens Binninger, ein gelernter Polizeikommissar, äußerte Verständnis dafür, dass dem brandenburgischen Verfassungsschutz der Quellenschutz von „Piatto“ wichtig war und sich die Behörde deshalb nicht schriftlich gegenüber der Polizei äußern wollte. Aus seiner Sicht kommt es für eine polizeiliche Fahndung auch nicht zwingend auf eine schriftliche Information an. Die Polizei hätte aber so informiert werden müssen, dass sie ihre Zielfahndung (auf das Trio) entsprechend hätte ausrichten können. Warum die notwendige Information bei der Polizei nicht angekommen sei, „war nicht nachzuvollziehen“. Und – allgemein gesprochen – habe der Quellenschutz natürlich seine Grenzen, wenn es um eine Mordserie gehe, betonte Binninger.

Warum bekam „Piatto“ keinen Anschlussauftrag?

Aus seiner Sicht wäre es „eine Überlegung gewesen, ,Piatto‘ gezielt nachfragen zu lassen“ – ob es Jan Werner gelungen sei, Waffen für das Trio zu besorgen. Einen solchen Anschlussauftrag habe der Bundestag aber nicht gefunden. Stattdessen sei das Meldeaufkommen von „Piatto“ hierzu im Oktober 1998 plötzlich abgebrochen. Warum? Auch das ist eine Frage, die der Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses seinen Brandenburger Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg gegeben hat.