„Carsten Szczepanski ist von einem anderen Nachrichtendienst entsorgt worden“ – als er 1994 vom brandenburgischen Verfassungsschutz als Informant und späterer V-Mann „Piatto“ angeheuert wurde. Davon geht Rechtsanwalt Christoph Kliesing aus, wie er am 11. Januar 2018 als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags sagte. Kliesing war Nebenklagevertreter des nigerianischen Lehrers Steve E., der von Szczepanski und anderen am 9. Mai 1992 beinahe ermordet worden wäre.
Die Bundesanwaltschaft hat am 13. Februar 1992 ein Verfahren gegen Carsten Szczepanski und den Ku-Klux-Klan Berlin-Brandenburg eingeleitet – wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung. Szczepanski war zu diesem Zeitpunkt untergetaucht. Gesucht wurde er, weil die Polizei am 8. Dezember 1991 in seiner Berliner Wohnung eine Bombenwerkstatt ausgehoben hatte.
Ein Zeuge mit mehr Akten als der Untersuchungsausschuss
Kaum hatte die Bundesanwaltschaft das Verfahren übernommen, meldeten sich die Verfassungsschutzämter des Bundes und aus Brandenburg, wie Kliesing berichtete. Ihm liegen die Handakten dieses Verfahrens von der Bundesanwaltschaft vor – dem NSU-Untersuchungsausschuss bislang nicht, was der Zeuge „erschreckend“ fand. Er erklärte sich daraufhin bereit, dem Ausschuss eine Kopie zur Verfügung zu stellen.
Handakten der Bundesanwaltschaft werden nach dortiger Auskunft grundsätzlich nicht den Untersuchungsausschüssen der Länder zur Verfügung gestellt. „Das stimmt aber nicht“, merkt die bündnisgrüne Obfrau Ursula Nonnemacher an. „Beim Thema ,Nationale Bewegung‘ hatte uns die Bundesanwaltschaft ihre Handakten zur Verfügung gestellt – beim Thema ,Piatto‘ hingegen nicht. Das finde ich merkwürdig.“
Brandenburgs Verfassungsschutz drängte auf Durchsuchung
Rechtsanwalt Kliesing berichtete detailliert aus diesen Handakten, er las teilweise auch daraus vor. Zwei Vermerke des brandenburgischen Verfassungsschutzes habe dessen Leiter Wolfgang Pfaff im Februar 1992 sogar persönlich beim zuständigen Bundesanwalt vorbeigebracht. Daraus ging hervor, dass dem Nachrichtendienst „dienstlich bekanntgeworden“ war, wo sich der gesuchte Szczepanski aufhält – nämlich in Königs Wusterhausen. Zusammen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz hätten die Brandenburger auf eine Wohnungsdurchsuchung gedrängt, sagte Kliesing. Das Bundeskriminalamt habe am 22. Februar 1992 zugeschlagen und Szczepanski festgenommen.
Was tags darauf am 23. Februar 1992 passierte, darüber sei den Akten jedoch nichts zu entnehmen, erläuterte der Zeuge – das finde er „irritierend“. Der zuvor untergetauchte Szczepanski sei einfach wieder entlassen worden. „Es ergibt sich nicht, wer die Freilassung veranlasst hat.“
Der entscheidende Tag im Leben des Carsten Szczepanski?
Kliesing folgerte: „Ich denke, das war der entscheidende Tag in der Biografie von Carsten Szczepanski.“ Denn er glaube nicht, dass sich der brandenburgische Verfassungsschutz und das Bundesamt an dem fraglichen Wochenende nicht dafür interessiert hätten, was aus der Sache geworden ist, nachdem sie sich zuvor „so massiv“ für die Durchsuchung eingesetzt hätten.
Vom 24. bis 26. Februar 1992 stellte sich Szczepanski voller Auskunftsfreude einer dreitägigen BKA-Vernehmung. Ohne Rechtsanwalt. In einem Terrorismusverfahren. Kliesing: „Irgendjemand muss ihn überredet haben, zu reden, denke ich.“
Bundesanwalt ließ Mordversuchs-Verfahren rechts liegen
Danach meint Kliesing einen „anderen Ton“ aus den Akten der Bundesanwaltschaft herauszulesen. Nachdem sich Szczepanski am 9. Mai 1992 in Wendisch-Rietz unter „Ku KLux Klan“-Rufen am Mordversuch auf Steve E. beteiligt hatte, habe der ermittelnde Bundesanwalt nicht einmal mehr die Akten beigezogen, um eine Übernahme des Strafverfahrens zur prüfen. Dasselbe sei nach dem Totschlag eines mutmaßlichen KKK-Mitgliedes in Buxtehude passiert, das Briefkontakt zu Szczepanski gehabt habe. Am 1. September 1992 habe die Bundesanwaltschaft das Terrorismusverfahren gegen Szczpeanski eingestellt, was Christoph Kliesing als „sehr wohlwollend“ bewertete.
Eine Strafvereitelung der Potsdamer Staatsanwaltschaft?
Der Sachbearbeiter hielt Szczepanski aber weiterhin für verdächtig, unter anderem gegen das Sprengstoffgesetz verstoßen zu haben. Aufgrund der Rohrbombenkörper, der Zündvorrichtung und der Chemikalien, die in seiner Wohnung sichergestellt worden waren. Der Bundesanwalt gab dieses Verfahren an die Berliner Staatsanwaltschaft weiter und jene leitete es zur Staatsanwaltschaft Potsdam weiter. Dort habe es zwei Jahre später noch unbearbeitet gelegen, sagte Zeuge Kliesing. Das sei Strafvereitelung gewesen – „das ist schon fast kriminell“.
Überhaupt seien in Potsdam zahlreiche Verfahren gegen den Verfassungsschutz-Informanten Szczepanski im Sande verlaufen. Die regelmäßig von der Polizei angestrengten Verfahren wegen der Herausgabe von KKK- und Skinhead-Magazinen habe die zuständige Staatsanwältin immer so lange liegen lassen, bis sie verjährt gewesen seien.
„Durch die Zeugenaussage ist der Eindruck entstanden, dass die Staatsanwaltschaft Potsdam in den 90er-Jahren Strafverfahren gegen Carsten Szczepanski systematisch durch Liegenlassen beendet hat – bis sie verjährt waren oder aus anderen Gründen eingestellt wurden“, sagte Ursula Nonnemacher. „Wenn sich das bestätigt, würde es sich um einen handfesten Justizskandal handeln.“
Als sich Ende 1992 der Haupttäter wegen versuchten Mordes gegen Steve E. vor Gericht verantworten musste, war gegen Szczepanski offenbar noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Als er schließlich gesehen habe, welche Anklage später gegen Szczepanski eingereicht worden sei, habe er einen „Schreikrampf“ bekommen, erzählte Christoph Kliesing. Ein Staatsanwalt habe den Rechtsextremisten wegen „gefährlicher Körperverletzung“ beim Einzelrichter angeklagt, was eine zu erwartende Höchststrafe von einem Jahr bedeutet hätte. Erst nach einem personellen Wechsel bei der Staatsanwaltschaft, den die Nachrichtendienste wohl nicht „auf dem Radar“ gehabt hätten, sei Bewegung in das Verfahren gekommen und Szczepanski schließlich wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt worden.
Wurde Szczepanski zur „tickenden Zeitbombe“?
Für einen Nachrichtendienst, der ihn am 23. Februar 1992 verpflichtet haben könnte, wäre Szczepanski gegebenenfalls durch den Mordversuch am 9. Mai 1992 zu „einer tickenden Zeitbombe“ geworden, sagte Kliesing: „Ich denke, er ist von einem anderen Dienst entsorgt worden“ – zum Brandenburger Verfassungsschutz.
Fakt ist, dass Verfassungsschutz-Chef Wolfgang Pfaff am 16. Oktober 1995 in einem Schreiben an den Leitenden Oberstaatsanwalt in Frankfurt (Oder) „bestehende Kontakte“ des Carsten Szczepanski „zu Verfassungsschutzbehörden“ – also in der Mehrzahl – erwähnt hat. Zehn Tage später, am 26. Oktober 1995, ging Pfaff in einem Brief an einen Referatsleiter des Justizministeriums auf die „Verbindung des Zeugen Szczepanski zu Sicherheitsbehörden, insbesondere zum Ministerium des Innern des Landes Brandenburg“ ein. Die Verfassungsschutzbehörde wird als Abteilung V des Innenministeriums geführt. Demnach hatte „Piatto“ neben dem Brandenburger Verfassungsschutz noch zu mindestens einer weiteren Sicherheitsbehörde Kontakt.