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Die Behinderung des NSU-Untersuchungsausschusses geht weiter

Damit der NSU-Untersuchungsausschuss am 6. November 2017 einige Dokumente aus dem Geheimschutzraum in öffentlicher Sitzung nutzen kann, hat die bündnisgrüne Landtagsfraktion am 12. Oktober 2017 Akten-Ausstufungen beziehungsweise ausgestufte Fassungen beantragt. Aber bis zum Sitzungstag haben das Innen- und das Justizministerium nicht eine einzige Seite bereitgestellt. Die Zeugenvernehmung einer Oberstaatsanwältin musste deshalb verschoben werden, weil deren Ermittlungsakten komplett im Geheimschutzraum weggeschlossen worden waren.

Den Themenkomplex zur „Nationalen Bewegung“ (NaBe), die sich in den Jahren 2000 und 2001 unter anderem zu Brandanschlägen bekannt hatte, wollte der NSU-Untersuchungsausschuss am 6. November 2017 abschließen. Es sollte unter anderem die Oberstaatsanwältin Marianne Böhm vernommen werden, die den Geheimnisverrat eines Verfassungsschutz-V-Mannes ermittelt hat, und der damalige Innenstaatssekretär Eike Lancelle, der zusammen mit dem Minister Jörg Schönbohm für die Verfassungsschutzbehörde politisch verantwortlich war.

Die Ausgangslage für eine öffentliche Sitzung war jedoch schlecht, weil im Fall Lancelle ein Großteil der relevanten Akten im Geheimschutzraum lag und im Fall der Oberstaatsanwältin sogar sämtliche Ermittlungsakten, die sie im Jahr 2003 angelegt hatte. Und das, obwohl der Strafprozess gegen den ehemaligen V-Mann damals öffentlich war. In den Akten, aus denen der Ausschuss in öffentlicher Sitzung vorhalten kann, tauchte der Name von Marianne Böhm nicht einmal auf.

Die öffentlich verwendbaren Akten im NaBe-Komplex kamen fast ausschließlich vom Generalbundesanwalt und vom Landeskriminalamt Brandenburg, wobei die LKA-Akten aus dem Terrorismusverfahren des Generalbundesanwalts gegen die „Nationale Bewegung“ stammten.

Brandenburger Beweismittel unter Verschluss

Nahezu alle anderen Dokumente, die von Brandenburgs Innen- und Justizministerium sowie von ihnen unterstellten Behörden angelegt worden sind, hatten hohe Verschlusssachen-Grade bekommen. Sie mussten deshalb im Geheimschutzraum des Landtags eingelagert werden. Es handelt sich um Akten mit einem Umfang von mehreren tausend Seiten. Letztlich musste die öffentliche Vernehmung der Oberstaatsanwältin Böhm auf den 10. November 2017 verlegt werden.

Erst am 9. November 2017 zwischen 16.30 und 17 Uhr gingen bei den Fraktionen 500 Aktenseiten ein, die nicht ausgestuft, aber wenigstens heruntergestuft worden waren. Als „Verschlusssachen – Nur für den Dienstgebrauch“ können sie in öffentlicher Sitzung verwendet werden, wobei jeweils eine rechtliche Abwägung erfolgen muss.

Die 500 Seiten waren aber nur ein Teil der Beweismittel, die für die öffentliche Zeuginnenbefragung erforderlich gewesen wären. Aufgrund der kurzfristigen Herunterstufung hätten mehr Dokumente allerdings auch gar nicht mehr vor der Sitzung ausgewertet werden können. Und die Aufschriebe aus dem Geheimschutzraum mussten auch nach der Herunterstufung dort verbleiben.

Geheimniskrämerei mittels Behörden-Trick

„Besonders grotesk ist, dass ein Großteil der fraglichen Schriftstücke überhaupt nicht als Verschlusssache eingestuft war, aber trotzdem im Geheimschutzraum lag“, kritisiert die bündnisgrüne Obfrau Ursula Nonnemacher. Diese Beweismittel hätten von Anfang an in öffentlichen Sitzungen verwendet werden können, wenn sich das Innen- und das Justizministerium beziehungsweise die ihnen unterstehenden Behörden nicht des folgenden „Tricks“ bedient hätten: Indem die fraglichen Dokumente mit höher eingestuften Dokumenten zusammen abgelegt beziehungsweise eingescannt worden sind, musste jeweils die gesamte Aktensammlung so hoch eingestuft werden, wie das höchsteingestufte darin enthaltene Dokument. „Dadurch wurden massenhaft nicht oder niedrig eingestuften Papiere der öffentlichen Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses entzogen“, erklärt Ursula Nonnemacher. „Das hat die gesamte Beweisaufnahme der vergangenen Monate beeinträchtigt.“

Die bündnisgrüne Landtagsfraktion hat deshalb am 12. Oktober 2017 beantragt, dass das Justizministerium sämtliche Akten zum Geheimnisverrat des V-Mannes Christian K. und zu damit zusammenhängenden Sachverhalten ausstuft oder hilfsweise ausgestufte Fassungen anfertigt. In „ausgestuften Fassungen“ sind Passagen geschwärzt, die gegebenenfalls tatsächlich geheimhaltungsbedürftig sind.

Sogar Zeitungsberichte im Geheimschutzraum

„Im vorliegenden Fall ist die Geheimniskrämerei ganz besonders absurd, weil wesentliche Inhalte dieser 14 Jahre alten Akten bereits im Jahr 2003 in der Presse standen“, erläutert die bündnisgrüne Sicherheitspolitikerin. „Insofern war es nur konsequent, dass die Ministerien auch Zeitungsberichte in den Geheimschutzraum geliefert haben“, merkt sie sarkastisch an.

Aus dem Geschäftsbereich des Innenministeriums betraf das bündnisgrüne Ausstufungsersuchen 235 Dokumente im Geheimschutzraum. 104 von diesen 235 Dokumenten sind überhaupt nicht eingestuft, weitere 29 von diesen 235 Dokumenten sind lediglich als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. „Diese Akten müssten dem Geheimschutzraum sofort und ohne weiteren Prüfungssaufwand für das Innenministerium entnommen werden können“, betont Ursula Nonnemacher – „das ist aber auch über vier Wochen nach unserem Antrag noch nicht geschehen, obwohl wir deswegen am 6. November 2017 zusammen mit der CDU sogar den Innenminister in den Ausschuss zitiert hatten.“ Den Justizminister wegen der Ermittlungsakten ebenfalls.

Zu diesem Eklat kam es, weil Bruno Küpper als Ausschuss-Koordinator des Innenministeriums einfach die Ausstufungsanträge in allen 235 Fällen zurückgestellt hatte, so dass die Beweismittel weiterhin nicht öffentlich genutzt werden konnten – und vom Justizministerium war nicht einmal eine Rückmeldung bekannt.

Mehrere tausend Aktenseiten einfach nicht geliefert

„Koordinator Küpper sowie die Verfassungsschutz- und Polizei-Abteilung des Innenministeriums haben die Arbeit des Untersuchungsausschusses wiederholt erheblich behindert und damit wider den erklärten Kooperationswillen von Innenminister Karl-Heinz Schröter gehandelt“, sagt Ursula Nonnemacher. „Ein Paradebeispiel sind die Akten, um deren Ausstufung es nun geht.“

Dass es diese Akten überhaupt gibt, hat der Untersuchungsausschuss – größtenteils – erst am 2. Juni 2017 in einer Zeugenvernehmung erfahren. Denn in dieser Sitzung brachte Kriminalhauptkommissar Michael K. vom Landeskriminalamt zwei Aktenstücke mit, welche die Abgeordneten noch nicht kannten. In der Folge stellte es sich heraus, dass mehrere tausend Seiten von Verfassungsschutzbehörde und Polizei nicht geliefert worden sind.

Verfassungsschützer beaufsichtigten Abgeordnete

Daraufhin bekamen die Ausschussmitglieder – nicht aber ihre sicherheitsüberprüften Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – in der Verfassungsschutzbehörde die Aktenordner vorgelegt: Unter der Aufsicht von Beamtinnen und Beamten der Verfassungsschutzbehörde. Und ihre Aufschriebe mussten die Abgeordneten dort zurücklassen. „Auch diese Geheimniskrämerei war rechtlich nicht haltbar, da diese Akten beispielsweise Medienberichte in dreistelliger Zahl und weitere nicht eingestufte Dokumente enthielten“, berichtet Ursula Nonnemacher. „Mal abgesehen davon, dass dem Ausschuss selbstverständlich auch geheime Akten geliefert werden müssen – dann eben in den Geheimschutzraum des Landtags.“

So kam es schließlich auch. Das Innenministerium hat diese Aktenmassen doch noch an den Ausschuss übergeben – „ein dreiviertel Jahr nach dem entsprechenden Beweisbeschluss, mitten in der bereits laufenden Beweisaufnahme zum Themenkomplex ,Nationale Bewegung‘ und folglich viel zu spät“, wie die bündnisgrüne Obfrau festhält. Obwohl alle Akten in den Geheimschutzraum des Landtags geschickt wurden, waren sogar Namen von Rechtsextremisten geschwärzt: Bis hinauf zu einem ehemaligen „Blood & Honour“-Kader. Und das sogar in Zeitungsberichten.

Aus dieser Beweismittelsammlung hat die bündnisgrüne Fraktion die Ausstufung von 235 Dokumenten beantragt beziehungsweise ausgestufte Fassungen – obwohl darunter für 104 nicht eingestufte Dokumente gar keine Ausstufung erforderlich ist. Trotzdem ist das Innenministerium diesem Ersuchen bis zum Abschluss des „NaBe“-Komplexes in der Sitzung am 10. November 2017 nicht nachgekommen.

Viele Beweismittel durften nicht öffentlich verwendet werden

„Wir müssen leider feststellen, dass der Untersuchungsausschuss bei seinem ersten Thema aufgrund der Behinderungen weit hinter seinen Möglichkeiten geblieben ist“, sagt Ursula Nonnemacher. „Denn während eines Großteils der Beweisaufnahme fehlten Akten. Und bis zum Schluss konnten viele Beweismittel nicht in öffentlichen Sitzungen verwendet werden.“