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Militante Nazis als V-Leute bei Verfassungsschutzbehörden – hat das System?

„Piatto“ – in den 90er-Jahren ein krimineller Neonazi und V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes – „war kein Betriebsunfall, das war System.“ Das ist dieEinschätzung des investigativen Journalisten Dirk Laabs. Zusammen mit dem früheren „Spiegel“- und heutigen „Welt“-Chefredakteur Stefan Aust hat er das Buch „Heimatschutz“ und Fernseh-Dokumentationen zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ veröffentlicht. Am 18. November 2016 sprach er als Sachverständiger im brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, habe kürzlich in einem Fernsehinterview für die ARD-Dokumentation „Der NSU-Komplex“ die Strategie seiner Behörde erklärt, berichtete Laabs. V-Leute würden demnach gezielt an terroristische Vereinigungen herangespielt. Folglich bräuchten die Verfassungsschutzbehörden Personen, die an solche Vereinigungen herankämen – gewaltbereite beziehungsweise militante Neonazis.

„Piatto“ – ein schwerkrimineller Rassist als „Vertrauensmann“

Carsten Szczepanski alias „Piatto“ saß wegen eines Mordversuchs an einem Nigerianer im Gefängnis, als ihn der brandenburgische Verfassungsschutz 1994 angeworben haben will. Er sei der „einzige V-Mann“, der nach Aktenlage „dem NSU nahekam“, sagte Laabs.

„Piatto“ berichtete seiner Behörde von Jan Werner, einem damaligen Führungskader des Neonazi-Netzwerks „Blood & Honour“ in Sachsen: Werner versuche, für das Trio Waffen zu beschaffen. Damit wollten die drei untergetauchten Neonazis einen „weiteren Überfall“ begehen, so die „Piatto“-Meldung vom September 1998. Der erste Überfall, der bis dato dem NSU zugeordnet wird, hat allerdings erst im Dezember 1998 stattgefunden.

Die geplante Waffenbeschaffung und die Überfall-Planung wollte der brandenburgische Verfassungsschutz damals nicht in das Ermittlungsverfahren gegen das Trio einspeisen. Um seine Quelle „Piatto“ zu schützen.

Etwa zum selben Zeitpunkt – im Oktober 1998 – war die Verfassungsschutzbehörde aber bereit, einen „Piatto“-Hinweis bezüglich einer geplanten CD-Lieferung in ein Verfahren gegen die Neonazi-Band „Landser“ einzubringen, von dem ebenfalls sächsische „Blood & Honour“-Leute wie Jan Werner und Thomas Starke betroffen waren. Die Polizei beschlagnahmte die CDs und Carsten Szczepanski stand fortan, wie Dirk Laabs ausführte, unter V-Mann-Verdacht. Darauf deute ein Notizbuch-Eintrag von Thomas Starke hin sowie der Umstand, dass „Piatto“ ausweislich seiner Berichte an keine weiteren Informationen bezüglich des Trios gekommen sei. Offiziell enttarnt wurde der V-Mann, der nach Verfassungsschutz-Darstellung eine herausragende Quelle gewesen sein soll, erst im Jahr 2000.

Eine solche Quelle wegen einer CD-Lieferung zu riskieren, sei „ein entscheidender Fehler“ der brandenburgischen Behörde gewesen, sagte Journalist Laabs. Ansonsten habe er aber den Eindruck gewonnen, dass „Piatto“ gut geführt und wohl auch gesteuert worden sei. Er sei zumindest immer wieder zur Stelle gewesen, kurz bevor es richtig gefährlich geworden sei – wie eben im Sommer 1998 in Sachsen, als sich das Trio für ein kriminelles Leben im Untergrund eingerichtet hat. Und es spricht laut Laabs alles dagegen, dass es damals Zufall gewesen sei, dass der brandenburgische Häftling Szczepanski ein Praktikum bei einer Szene-Firma im fernen Chemnitz begonnen habe.

Allerdings sei Szczepanski schon vor 1994, als ihn der brandenburgische Verfassungsschutz angeworben haben will, wiederholt zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, sagte Laabs – wenn man das aus Perspektive einer V-Mann-führenden Sicherheitsbehörde betrachte. So hatte Szczepanski Anfang der 90er-Jahre Kontakt zu dem „Ku-Klux-Klan“-Aktivisten und späteren Terroristen des „Weißen Arischen Widerstandes“ Dennis Mahon aus den USA. Es sei „völlig ungeklärt“, wie der brandenburgische Jungnazi mit Mahon in Kontakt gekommen sei, merkte Laabs an. Nicht bekannt sei außerdem, was „Piatto“ über die terroraffinen Szenen in England und den USA insgesamt an Informationen geliefert habe.

Klar sei hingegen, dass die rassistische Ideologie des Ku-Klux-Klans, die Idee des Rassenkrieges, von Carsten Szczepanski „mit nach Deutschland getragen“ worden sei.

Brandenburgische Behörde observierte untergetauchten Szczepanski

Als die Polizei im Dezember 1991 in Szczepanskis Berliner Wohnung eine Bombenwerkstatt ausgehoben habe, sei er untergetaucht, schreibt Laabs im Buch „Generation Hoyerswerda“. Während das BKA ihn gesucht habe, sei sein neuer Aufenthaltsort bereits vom brandenburgischen Verfassungsschutz observiert worden.

Vor dem Untersuchungsausschuss erklärte Laabs, dass es in Verfassungsschutzbehörden auch Abteilungen für „Werbung und Forschung“ gebe, die V-Mann-Kandidaten observieren würden.

Im Fall des untergetauchten, aber vom Verfassungsschutz beobachteten Szczepanski hätten die BKA-Ermittler erstmal eine falsche Adresse (in Königs Wusterhausen) mitgeteilt bekommen, so dass sie den Verdächtigen erst im zweiten Anlauf erwischt hätten.

Szczepanski habe sich anschließend drei Tage lang ohne Rechtsanwalt vernehmen lassen, sagte der Sachverständige. Inhaftiert worden sei er aber nicht, obwohl er hätte wieder untertauchen können: „Er ging zur Tür raus und es passierte nichts.“

Laabs spricht von einer „Sonderbehandlung“ des Carsten Szczepanski „durch verschiedene Behörden“. So dauerte es nach dem Mordversuch an einem Nigerianer zwei Jahre, bis der – später verurteilte – Szczepanski festgenommen wurde. Mit „Ku-Klux-Klan“-Rufen soll er bei dieser Tat den rechtsextremistischen Mob angefeuert haben. Und ein Klan-Kumpel von ihm habe einen Obdachlosen umgebracht, erzählte Laabs. Trotzdem habe der Generalbundesanwalt das Verfahren gegen den „Ku Klux Klan“ wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung, das Szczepanski betraf, im September 1992 eingestellt.

Unerklärlich risikobereit – war Szczepanski sogar mehr als ein V-Mann?

Dirk Laabs und Professor Hajo Funke aus Berlin, der ebenfalls als Sachverständiger fungierte, empfahlen dem Untersuchungsausschuss dringend, zu überprüfen, ob Szczepanski schon vor 1994 für eine Sicherheitsbehörde gespitzelt hat. Funke: „Carsten Szczepanski war nach meinem Dafürhalten 1991 ein Terrorist.“

Laut Laabs ist „Piatto“ für die Verfassungsschutzbehörde immer wieder ein hohes Risiko eingegangen. Die Erklärung, dass er Probleme mit Szene-Angehörigen gehabt haben will, reicht dem Journalisten nicht als Begründung für diese Risikobereitschaft aus: „Da muss es noch etwas anderes geben.“ Der Sachverständige warf in diesem Zusammenhang die „Frage der Hauptamtlichkeit“ auf. War Szczepanski mehr als ein V-Mann?

Szczepanski habe schon vor der Gründung von „Blood & Honour“ in Deutschland, Verbindung zu den Top-Bands des Netzwerks gehabt, sagte Laabs. Kaum sei er Ende 1998 aus der Haft entlassen worden, habe „Piatto“ Kontakte „zu gefährlichen Nazis in England“ gepflegt. Laabs nannte die Führer des „National Socialist Movement“ als Beispiel: Steve Sargent, den Bruder von Charlie Sargent von der Terrorgruppe „Combat 18“, und Tony Williams. Beide seien nach Brandenburg gekommen und hätten dort Szczepanski getroffen.

Innerhalb von „Blood & Honour“-Strukturen hätten Beziehungen zu internationalen Neonazi-Netzen bestanden, die in den USA, Großbritannien und Schweden in Richtung terroristischer Aktivitäten gegangen seien, sagte Dr. Gideon Botsch. Der Privatdozent des „Moses Mendelssohn-Zentrums“ an der Universität Potsdam erläuterte als Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuss, dass diese Konzepte unter dem Label „Combat 18“ in Deutschland verbreitet worden seien: „In Brandenburg geschah dies beispielsweise in den Zirkularen ,Der Weiße Wolf‘ und ,United Skins‘ von Carsten Sz. beziehungsweise ,Piatto‘.“

Es gilt zu untersuchen, ob „Piatto“ seinen „Kameraden“ sogar Waffen offeriert hat. So fragte der Chemnitzer „Blood & Honour“-Kader Jan Werner auf dem Innenministeriums-Handy des V-Mannes an: „Was ist mit den Bums“? Später hat der Rechtsextremist Henning K. laut Laabs in anderem Zusammenhang behauptet, dass Szczepanski Waffen angeboten habe. Das sei auch unter dem Aspekt überprüfenswert, dass – abgesehen von einer Pistole – die Herkunft der NSU-Waffen noch nicht geklärt sei.

„Piatto“ und der „B & H“-Kader Jan Werner – ein lückenhaftes Abhörprotokoll

Die „Bums“-SMS ist aufgrund einer Telekommunikations-Überwachung des Jan Werner seitens der Thüringer Polizei bekannt. Die Abhörprotokolle seien jedoch unvollständig, sagte Dirk Laabs. Auf Nachfrage von Ursula Nonnemacher, der bündnisgrünen Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss, erläuterte er, dass die Aufzeichnungen am Tag nach der „Bums“-SMS fehlen – sowie rund um ein Wochenende, an dem sich „Piatto“ und Werner getroffen hätten.

Dass „Piatto“ – über die Beobachtungsaufgaben der Verfassungsschutzbehörde hinaus – in strafrechtlicher Hinsicht etwas bewirkt hätte, ist dem brandenburgischen Generalstaatsanwalt Professor Erardo Cristoforo Rautenberg nicht bekannt. Er war ebenfalls als Sachverständiger im NSU-Untersuchungsausschuss.

Rautenberg bedauerte es, dass beim damaligen Verfassungsschutz-Leiter und ehemaligen Bundesanwalt Wolfgang Pfaff das „Gespür für nicht zu überschreitende Grenzen“ versagt habe, als „Carsten Szczepanski als V-Mann verpflichtet wurde“.

Die Aufklärung im Fall des V-Mannes „Piatto“ steht erst am Anfang

Sechs Jahr lang lieferte der Rechtsextremist Informationen an die brandenburgische Behörde. „Dass der Verfassungsschutz ,Piatto‘ so lange akzeptiert hat, ist ein Skandal“, sagte Professor Funke: „Die Aufklärung dieses Falls steht erst am Anfang.“