„Ich gehe davon aus, dass es möglich gewesen wäre, die Drei festzunehmen – auf Basis der Informationen, die Carsten Szczepanski gegeben hat.“ Das hat die Rechtsanwältin Antonia von der Behrens gesagt, eine der Nebenklage-Vertreterinnen im Prozess gegen den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Sie referierte am 24. Februar 2017 als Sachverständige vor dem brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss.
„Die Drei“ – Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – gelten heute als Kerntrio des NSU. Carsten Szczepanski ist ein früherer V-Mann des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Er hat unter dem Decknamen „Piatto“ von August bis Oktober 1998 über die drei damals flüchtigen Rechtsextremisten berichtet und darüber, dass sie Waffen für einen „weiteren Überfall“ beschaffen wollten. Diese Hinweise hat die Verfassungsschutzbehörde zwar an andere Verfassungsschutzbehörden gesteuert, nicht aber in das polizeiliche Ermittlungsverfahren gegen die Jenaer Bombenbauer eingespeist – angeblich um die Quelle „Piatto“ zu schützen.
Der Journalist Robert Andreasch stellte sich als Beobachter des NSU-Prozesses die Frage: „Könnten heute zehn Menschen noch leben, wären Dutzende, Hunderte, nicht traumatisiert worden, wenn der Brandenburger VS anders gehandelt hätte?“ Andreasch hat rund 320 Verhandlungstage des NSU-Prozesses miterlebt. Er kritisierte als Sachverständiger vor dem Landtagsgremium, dass die brandenburgischen Zeugen vor dem Oberlandesgericht (OLG) München „überhaupt nicht ausgepackt“ und folglich nicht zur gerichtlichen Aufarbeitung der Mordserie beigetragen hätten.
Das Münchener OLG hat Carsten Szczepanski sowie seine früheren V-Mann-Führer Reinhard Görlitz und Gordian Meyer-Plath vernommen. Amtliche Protokolle von den Gerichtsverhandlungen gibt es nicht. Deshalb war der NSU-Untersuchungsausschuss auf sachverständige Zeugen angewiesen, um sich über die Brandenburg-Bezüge des Verfahrens zu informieren. Neben Antonia von der Behrens und Robert Andreasch war der Journalist Friedrich Burschel geladen. Burschel und Andreasch arbeiten unter anderem für das Bündnis „NSU Watch“, das die Aufklärung in Prozess und Untersuchungsausschüssen kritisch begleitet.
Die Anwerbung des V-Mannes „Piatto“
Carsten Szczepanski hat nach Verfassungsschutz-Angaben seit 1994 für die Brandenburger Behörde gespitzelt. Der Kontakt zu ihm soll im Gefängnis entstanden sein, wo er wegen Mordversuchs in Untersuchungshaft saß. Als Zeuge vor dem OLG gab er nach Auskunft der Sachverständigen vor, sich an seine Trio-Meldungen und vieles andere nicht mehr erinnern zu können – aber offenbar daran, dass er bereits um das Jahr 1991 herum angefangen habe, für den Verfassungsschutz zu arbeiten.
Unabhängig von dieser Szczepanski-Aussage gebe es „erhebliche Hinweise“, dass er im Februar 1992 von einem Nachrichtendienst angeworben worden sei, sagte Antonia von der Behrens. Der Generalbundesanwalt und das BKA ermittelten damals gegen den rassistischen Geheimbund „Ku-Klux-Klan“ wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung. Im Fokus der Strafverfolger stand Carsten Szczepanski.
Nachdem ihn das BKA festnehmen konnte, kam es zu einer mehrstündigen Vernehmung, die auf nur wenigen Seiten niedergeschrieben ist, wie die Rechtsanwältin berichtete. Dann sei einen Tag lang nichts passiert. Anschließend folgten offenbar ganztägige Vernehmungen vom 24. bis 26. Februar 1992: „Es ist nicht klar, was ihn dazu gebracht hat, drei Tage lang wie ein Wasserfall zu reden“, sagte die Juristin.
Szczepanski war danach wieder ein freier Mann und entfaltete laut Antonia von der Behrens kostspielige Aktivitäten in der rechtsextremistischen Szene. So habe er das Fanzine „United Skins“ herausgebracht: Lesestoff für Skinheads, der „in guter Qualität“ produziert gewesen sei. Zudem habe er sich ein Handy leisten können – im Jahr 1992!
Ursula Nonnemacher, die bündnisgrüne Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss, kam zu dem Ergebnis: „Wir müssen also versuchen, die finanziellen Verhältnisse von Szczepanski in dieser Phase zu klären – um festzustellen, ob er das erforderliche Geld klassisch verdient haben könnte oder er womöglich von einem Nachrichtendienst finanziert wurde.“
Kam „Piatto“ dem Trio zufällig so nahe?
Am 26. Januar 1998 hat die Polizei die Jenaer Bombenwerkstatt von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ausgehoben – das Trio entzog sich durch Flucht. Der brandenburgische Verfassungsschutz habe die Drei frühzeitig auf dem Radar gehabt, wie aus einem Interview des damaligen Behördenleiters Hans-Jürgen Förster vom 14. März 1998 hervorgehe, sagte Antonia von der Behrens.
Nach heutigem Kenntnisstand tauchte das Trio in Chemnitz unter. Gab es damals schon Hinweise darauf? Im Monat nach dem Förster-Interview habe V-Mann „Piatto“ aus der Haft in Brandenburg heraus ein Praktikum im fernen Chemnitz vereinbart, sagte die Nebenklage-Vertreterin – im Nazi-Laden „Sonnentanz“ von Michael und Antje Probst. Weitere vier bis fünf Monate später berichtete „Piatto“ seinem V-Mann-Führer, dass Antje Probst das flüchtige Trio unterstütze.
Aus dem handschriftlichen Vermerk eines Thüringer V-Mann-Führers geht laut Antonia von der Behrens hervor, dass ihm „Piattos“ V-Mann-Führer Görlitz am 7. September 1998 berichtet habe, die drei flüchtigen Rechtsextremisten seien in Chemnitz untergetaucht. In so genannten Deckblattmeldungen, in denen der V-Mann-Führer die Hinweise von „Piatto“ niedergeschrieben hat, sei bis zum damaligen Zeitpunkt aber nichts vom Aufenthaltsort Chemnitz zu lesen gewesen.
Woher hatte der brandenburgische V-Mann-Führer diese Information und warum fehlen sie in der Deckblattmeldung? Als Zeuge im NSU-Prozess hat Görlitz behauptet, sich an fast nichts erinnern zu können, wie alle drei Sachverständigen berichteten – auch nicht an besagtes Telefonat mit seinem Thüringer Verfassungsschutz-Kollegen.
Der Verfassungsschutz machte mobil
In Folge der „Piatto“-Hinweise hätten die Verfassungsschutzbehörden in Thüringen, Sachsen und Brandenburg hektische Betriebsamkeit entwickelt, sagte Antonia von der Behrens. Am Tag nach dem Telefonat mit dem Brandenburger V-Mann-Führer Görlitz habe der Thüringer Verfassungsschutz seinem V-Mann Marcel Degner eine Sonderprämie in Höhe von 3000 Mark für Informationen über das untergetauchte Trio in Aussicht gestellt. Er soll daraufhin denselben Unterstützerkreis benannt haben wie Szczepanski: Jan Werner, Antje Probst und „Blood & Honour Sachsen“. Und Degner galt wohlgemerkt als Leiter des „Blood & Honour“-Netzwerks in Thüringen.
Nach Auskunft der Rechtsanwältin gab es im September 1998 mehrere Verfassungsschutz-Besprechungen und Vermerke, die sich mit der Suche nach dem Trio beschäftigten. Teils hochrangige Nachrichtendienstler aus Sachsen und Thüringen seien am 15. oder 17. September 1998 zu einer Besprechung nach Potsdam gefahren. Deren Ergebnis war es, dass die brandenburgische Behörde ihre Erkenntnisse nicht der Polizei übergeben wird – angeblich, um ihre Quelle „Piatto“ zu schützen.
„Dieser Grund überzeugt mich in keiner Weise“, betonte Antonia von der Behrens. Die Verfassungsschutzbehörde sage selbst, dass „Piatto“ zur Aufklärung vieler Straftaten beigetragen habe. So sei im Oktober 1998 – also zur selben Zeit – eine Lieferung mit „Landser“-CDs aufgrund eines „Piatto“-Hinweises beschlagnahmt worden. Das wirft aus Sicht der Rechtsanwältin die Frage auf, weshalb die Enttarnung des V-Mannes wegen CDs in Kauf genommen wurde, nicht aber, als es um eine geplante Waffenbeschaffung für untergetauchte Rechtsextremisten ging.
Sachsens heutiger Verfassungsschutz-Präsident
Die gemeinsamen Verfassungsschutz-Aktivitäten seien in den OLG-Akten bis zum 21. September 1998 nachvollziehbar, dann breche die Dokumentation abrupt ab, stellte die Nebenklage-Vertreterin fest. Der damalige V-Mann-Führer Gordian Meyer-Plath wolle Szczepanski noch im Oktober 1998 den Auftrag gegeben haben, weitere Informationen über das untergetauchte Trio zu beschaffen.
Doch ab diesem Zeitpunkt sind keine entsprechenden „Piatto“-Berichte mehr bekannt. Kurze Zeit später habe er sein Szene-Magazin „United Skins“ eingestellt, fügte Antonia von der Behrens hinzu. All das falle ungefähr mit dem Ausscheiden von Gordian Meyer-Plath beim brandenburgischen Verfassungsschutz zusammen. Zum 1. November 1998 sei er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu einer Bundestagsabgeordneten gewechselt.
„Wissenschaftlicher Mitarbeiter – das klingt zwar gut, aber das ist eher ein Job für Uni-Absolventen“, erläuterte die Rechtsanwältin, die diesen Karriere-Schritt als Rückschritt bewertete. Noch mehr wundert sie, dass Meyer-Plath nach dieser Tätigkeit im Jahr 2001 als Referatsleiter zum Verfassungsschutz zurückgekehrt ist. Denn eine wissenschaftliche Mitarbeit bei einer Bundestagsabgeordneten „qualifiziert nicht unbedingt zum Referatsleiter“. Es liege daher der Verdacht nahe, dass Meyer-Plath während seiner Abwesenheit von der Brandenburger Behörde in Wirklichkeit für einen anderen Nachrichtendienst gearbeitet und sich dort für die Referatsleiter-Aufgabe qualifiziert habe. Das sei aber eine Spekulation, merkte die Sachverständige an.
Die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz
Sie empfahl dem Untersuchungsausschuss, die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu berücksichtigen. Denn die Informationen aus Brandenburg seien an das Bundesamt gegangen und es stelle sich die Frage, welche Folgemaßnehmen von dort beschlossen und umgesetzt worden seien.
Zudem hätte das Bundesamt nach Einschätzung der Rechtsanwältin von der SMS Kenntnis haben müssen, die der sächsische „Blood & Honour“-Kader Jan Werner am 25. August 1998 an „Piattos“ Diensthandy geschickt hatte: „Hallo, was ist mit den Bums“? Der V-Mann berichtete damals, dass Werner Waffen für das flüchtige Neonazi-Trio beschaffen wolle. Darüber hinaus sei das Wissen über den Aufenthaltsort der Flüchtigen auch an anderer Stelle bekannt gewesen, sagte Antonia von der Behrens, aber die brandenburgische Verfassungsschutzbehörde sei in einer Schlüsselposition gewesen.
„Piatto“-Interesse des Bundes-Verfassungsschutzes
Die Juristin findet es bemerkenswert, dass die Brandenburger Nachrichtendienstler seit der Enttarnung von „Piatto“ keinen direkten Kontakt mehr mit ihrem ehemaligen V-Mann gehabt haben wollen – ihn das Bundesamt für Verfassungsschutz aber nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 einer Befragung unterzogen habe.
Ursula Nonnemacher zog nach der Sitzung folgendes Fazit: „Wir haben von den drei Sachverständigen sehr viele wertvolle Hinweise erhalten, wo wir mit unseren parlamentarischen Untersuchungen konkret ansetzen können und müssen. Wir werden alles dafür tun, um die offenen Fragen und Ungereimtheiten zu klären.“