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Axel Vogel spricht zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten zu „25 Jahre Land Brandenburg und zu den Herausforderungen für das Land mit Blick auf die aktuelle Asyl- und Flüchtlingsdiskussion“

>> Zum Entschließungsantrag „Aufnahme, Betreuung und Integration auch unter den neuen Rahmenbedingungen gewährleisten“ der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, SPD, CDU und Linke und der BVB/FREIE WÄHLER Gruppe (pdf-Datei)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bundesländer mögen eine „Stunde Null“ kennen, kennen, Gesellschaften kennen diese jedoch nicht. Denn Gesell-schaften bestehen aus Menschen und beruhen auf deren sozialen Beziehungen – Menschen, die ihre individuelle Geschichte haben und im Laufe ihres Lebens im Wechselspiel mit ihrem Umfeld verschiedene Mentalitäten entwickeln und Weltanschauungen herausbilden.

Bei allen Beschwörungen einer Brandenburger Identität – die typische Brandenburgerin und den typischen Brandenburger gibt es nicht. Brandenburg ist bunt und vielgestaltig und so sind auch seine Bürgerinnen und Bürger. Das Typische am Brandenburg ist vielleicht, dass er untypisch ist. Denn Brandenburg – das wurde gerade angesprochen – ist ein Zuwanderungsland, und das schon seit sehr langer Zeit. Seit 1990 sind ungefähr 1,5 Millionen Menschen nach Brandenburg zugewandert. Wir sind aber auch Abwanderungsland, denn im gleichen Zeitraum sind in etwa dieselbe Anzahl Menschen über die Landesgrenze weggezogen. Seit Jahren verzeichnen wir hier einen Zuzug von 60 000 Menschen pro Jahr – ohne Flüchtlinge.

Wenn wir heute feststellen, dass die Wiederbegründung des Landes Brandenburg ohne die friedliche Revolution von 1989 undenkbar ist, dann spielen die Ereignisse der Umbruchzeit dennoch oder gerade deswegen nicht unbedingt eine entscheidende Rolle in den Lebenserinnerungen vieler Brandenburgerinnen und Brandenburger. Das gilt schon einmal von Hause aus für die 500 000 jungen Menschen, die nach 1989 geboren wurden. Das gilt aber auch für viele der Neubürgerinnen und Neubürger, bei denen die Erinnerung an diese Umbruchszeit nicht präsent ist. Das ist heute Geschichte. Ein solcher Satz ist schnell dahergesagt, egal ob Drittes Reich, DDR oder friedliche Revolution. Aber auch, wenn sich die Geschichtswissenschaft inzwischen diesen Epochen angenommen hat, bedeutet das nicht, dass sich die Geschichte erledigt hat. Die erlebte Geschichte wirkt in den Menschen nach und damit in unserer Gesellschaft fort.

Machen wir uns klar: 1990 musste man schon über 70 Jahre alt sein, um wenigsten ansatzweise die Weimarer Demokratie noch miterlebt zu haben. Alle damals über 60-Jährigen brachten ihre doppelten Diktaturerfahrungen von NS- und SED-Diktatur als Lebenserfahrungen in dieses neue Bundesland Brandenburg mit ein. Diktaturerfahrungen, die nur kurz unterbrochen waren, als mit der Gründung des kurzlebigen Landes Brandenburg durch die sowjetische Besatzung 1946 einmalig demokratische Wahlen stattfanden, bevor in der Deutschen Demokratischen Republik die Demokra-tie und die Länderstrukturen beerdigt wurden. Das staatliche Leben in der DDR war – darüber sollte auch mit der Linken ein Konsens zu erzielen sein – nicht darauf ausgerichtet, das freie Unternehmertun zu fördern oder den freien Bauernstand am Leben zu erhalten. Zu den Bildungszielen gehörte es auch nicht gerade, die Schüler fit für ein Leben in einer demokratischen Gesellschaft zu machen und zum Widerspruch gegen ZK-Entscheidungen anzuregen.

(Vereinzelt Beifall AfD)

Für Zerstreuung und gesellschaftskonforme Unterhaltung war gesorgt: Dafür gab es die Jungen Pioniere, die Freie Deutsche Jugend und die GST, um der Jugend den Umgang mit der Waffe beizubringen.

(Zuruf der Abgeordneten Mächtig [DIE LINKE])

So ein Leben prägt, und vor diesem Hintergrund ist umso anerkennenswerter, was in Brandenburg gelungen ist: der Aufbau eines zweifelsfrei demokratischen Bundeslandes Brandenburg in einer Bundesrepublik Deutschland, die das Wort „demokratisch“ nicht im Namen zu führen braucht, weil sie es einfach ist, ein Bundesland Brandenburg, das sich – und das ist ein unmittelbares Erbe der Bürgerrechtsbewegung – die damals modernste Verfassung eines deutschen Bundeslandes gegeben hat, geprägt von den Erfahrungen der DDR-Vergangenheit und vom starken Misstrauen der Landespolitikerinnen) gegenüber einer ständig präsenten Staatsgewalt. Deshalb wurde den Grundrechten auch ein herausragender Wert beigemessen.

Die Verfassung stärkte Minderheitenrechte – der Ministerpräsident hat es angesprochen –, so der in Brandenburg lebenden Sorben und Wenden. Neuartig war auch, dass niemand wegen seiner sexuellen Identität oder einer Behinderung benachteiligt werden darf. Durch die Verfassung zieht sich auch ein grüner Faden der Nachhaltigkeit, des Umwelt- und Naturschutzes, des Anspruchs auf Bildung usw. Diese Verfassung gewährte – damit sind wir beim Thema – umfangreiche politische Gestaltungsrechte, die auf Initiative von BÜNDNIS 90 zum ersten Mal in einer deutschen Verfassung als Grundrechte formuliert wurde. Neu war, dass eine Verfassung nicht nur politisch Verfolgten das Recht auf Asyl garantierte, sondern die politischen Beteiligungsmöglichkeiten auf Ausländer und Staatenlose erweiterte.

Das war alles andere als selbstverständlich, denn das Zusammenleben mit Zuwanderern gehörte nicht gerade zum langjährigen Erfahrungsschatz der DDR-Bürger. Während in der sogenannten BRD 1964 der einmillionste Gastarbeiter begrüßt wurde, lebten in der DDR – mit Ausnahme der Warschauer-Pakt-Truppen – gerade einmal 18.500 Ausländer. 1989 lebten hier 93.000 ausländische Vertragsarbeiter, zumeist aus Vietnam, unter faktisch ghettoisierten Verhältnissen, und obwohl – oder gerade weil – es kaum Ausländer gab, und trotz eines staatlich verordneten Antifaschismus, verzeichnete allein die Stasi vor 1989 8.600 ausländerfeindliche, neonazistische und antisemitische Aktionen, Ausschreitungen und Übergriffe, die der Historiker Harry Waibel von der FU Berlin in den Überlieferungen des MfS aufgespürt hat. Nazis gab es eben nicht nur im Westen, und das festzustellen wäre auch 1990 nicht schwer gewesen. Aber es brauchte Jahre, bis die Brandenburger SPD unter Manfred Stolpe ihren fatalen Kurs des Wegschauens und Kleinredens aus Angst, dass Ehrlichkeit dem Ruf des Landes schaden könnte, endlich änderte –

(Beifall B90/GRÜNE)

ein Kurs, an dem allerdings in manchen Gemeinden, wie in Zossen, noch bis vor Kurzem festgehalten wurde und an den bedauerlicherweise angeknüpft wird, wenn sich ost- und westdeutsche Ministerpräsidenten gegenseitig beharken, wo nun mehr und gefährlichere Menschenfeinde sitzen. Eine absolut überflüssige Debatte, denn Fremdenfeindlichkeit und Menschenhass müssen überall bekämpft werden, ohne auf den Nachbarn zu schielen.

(Beifall B90/GRÜNE, DIE LINKE und AfD)

Die jüngsten bundesweiten Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte und -initiativen offenbaren eine neue Qualität des rechtsextremen Terrorismus. Nur die AfD hat keine Schwierigkeiten damit, angebliche Beweggründe für Brandstiftungen zu erfinden und diese damit implizit zu rechtfertigen.

(Widerspruch bei der AfD)

Die Suche nach den realen Brandstiftern müssen wir der Polizei überlassen. Die geistigen Brandstifter sitzen mitten unter uns, und damit habe ich eigentlich alles zu Herrn Gauland gesagt.

(Beifall B90/GRÜNE, DIE LINKE und SPD)

Aber es bleibt unsere Aufgabe, ihnen entgegenzutreten. Heute – darin stimme ich dem Ministerpräsidenten zu – haben wir mit dem Netzwerk „Tolerantes Brandenburg“ der gezielten Förderung der bürgerschaftlichen Gegenkräfte und dem Zusammenwirken von staatlichen Institutionen und Zivilgesellschaften Wegweisendes geleistet, und es ist kein Wunder, dass die AfD nicht müde wird, die Finanzierung dieses Engagements infrage zu stellen.

(Zuruf des Abgeordneten Galau [AfD])

Wir haben eine Zivilgesellschaft, in der Bürgermeister(innen) oft an vorderster Stelle stehen, wenn gegen Naziaufmärsche demonstriert wird, und ehrlich gesagt, wenn ich bei solchen Demonstrationen sehe, dass die Einsatzleitung bei Brandenburger Polizeiführern liegt, dann bin ich schon ein Stück weit beruhigt,

(Beifall des Abgeordneten Kurth [SPD])

denn ich habe die Erfahrung gemacht: Im Gegensatz zu unserem südlichen Nachbarn Sachsen haben hier Staatsanwaltschaft und Polizei nicht das Festsetzen von Gegendemonstranten zum Kern ihrer Einsatzstrategie erhoben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass in Brandenburg einem gewalttätigen rechten Mob wie in Heidenau ohne Personalienfeststellung und Einleitung von Strafverfahren begegnet wird.

(Galau [AfD]: Die Rechtslage, Herr Vogel!)

Aber zurück zu den Anfangsjahren und zur Entstehung unserer Verfassung. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Übergang von der SED-Diktatur zur parlamentarischen Demokratie, insbesondere aber die Erarbeitung der Verfassung, eine spezifisch brandenburgische Note hatte. Dies hatte wohl in der Tat mit der damals bun-desweit einmaligen Ampelkoalition aus SPD, FDP und BÜNDNIS 90 zu tun, die aktiv die CDU und die damals noch zu Recht als demokratisches Schmuddelkind betrach-tete SED-Nachfolgepartei PDS in die parlamentarische Verantwortung einbezogen.

(Widerspruch bei der Fraktion DIE LINKE)

Allerdings befanden sich – Ihnen zum Trost – im Landtag auch jede Menge anderer Schmuddelkinder: die in CDU und FDP übernommenen Mitglieder der Blockparteien oder auch die ehemaligen informellen Mitarbeiter der Stasi, die sich auf alle Fraktionen gleichmäßig verteilten.

(Galau [AfD]: Nö, bei uns nicht!)

Aus heutiger Sicht war insbesondere die Einbeziehung der PDS in die Erarbeitung der Verfassung eine demokratische Großtat, denn diese legte den Grundstein für die Weiterentwicklung der SED-Erben zur heutigen, demokratisch geläuterten und uns manchmal schon viel zu realpolitischen Partei DIE LINKE –

(Zuruf der Abgeordneten Mächtig [DIE LINKE])

eine Partei, mit der wir hier im Landtag immer wieder gerne streiten, bei der wir aber nie die Angst haben, dass sie erneut die Diktatur des Proletariats ausrufen könnte. Man könnte auch sagen: Die Demokratie hat auf der ganzen Linie gesiegt.

(Galau [AfD]: So ein Quatsch!)

Die Schattenseite war, dass Mitläufer der SED-Diktatur damit zwar erfolgreich integriert, deren Opfer dagegen über Jahre vor den Kopf gestoßen wurden. Es brauchte fast 20 Jahre, bis die Enquêtekommission zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit diesen Sachverhalt feststellte und nach Jahren der Ignoranz die betroffenen Opfer endlich ein Podium hier im Landtag fanden. Auch das ist Brandenburger Geschichte.

(Beifall B90/GRÜNE)

Auch wenn die SPD heute allzu oft für alles Gute, Wahre und Schöne verantwortlich sein will – im Guten wie im Schlechten fortwirkende Grundlagen für dieses Land wurden von Vertretern aller Parteien gelegt. Ich beginne diesmal nicht mit den Grünen.

Hinrich Enderlein von der FDP legte den Grundstein für die vom Ministerpräsidenten Dr. Woidke angesprochene vielbeachtete Hochschullandschaft im vorher hochschulfreien Bundesland Brandenburg. Johanna Wanka von der CDU sorgte für die Stärkung der Fachhochschulen, bevor die Hochschulen nach 2009 von Rot-Rot finanziell in die Mangel genommen wurden. Marianne Birthler und Roland Resch von BÜNDNIS 90 waren dafür verantwortlich, dass die Schüler in den Grundschulen sechs Jahre gemeinsam lernen. Matthias Platzeck, damals vom BÜNDNIS 90 als Umweltminister gestellt, baute auf dem Erbe des DDR-Nationalparkprogramms ein europaweit beachtetes Großschutzgebietssystem auf, bevor dieses dann unter dem späteren SPD-Ministerpräsidenten Platzeck auf das heutige Maß zurechtgestutzt wurde.

Das Ministerium für Ländliche Entwicklung und Landwirtschaft, das sich seit seiner Gründung immer in den Händen der SPD befand, tat dagegen alles Menschenmögliche, um die industrialisierten Landwirtschaftsstrukturen der DDR zulasten der Wiedereinrichtung über die Zeit zu retten, und legte damit den Grundstein für die Entleerung unserer Dörfer, für Massentierhaltung und den Ausverkauf der Flächen an au-ßerlandwirtschaftliche Investoren.

(Beifall B90/GRÜNE und AfD)

Die drei SPD-Ministerpräsidenten Stolpe – Stichwort Horno –, Platzeck – IG BCE-Mitglied – und Dr. Woidke – Stichwort Verhinderung der Klimaabgabe auf Kohle – höchstselbst unternahmen alles Erdenkliche, um die 1990 ins Bodenlose abstürzende Braunkohlewirtschaft am Leben zu erhalten. Die Folgen können heute an der braunen Spree, in Welzow-Süd und in der Klimabilanz des Landes besichtigt werden.

(Beifall B90/GRÜNE)

Einen Plan B für die Zeit nach der Braunkohle hat die SPD dagegen bis heute nicht entwickelt.

(Frau Mächtig [DIE LINKE]: Es gibt viele Seenlandschaften!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller Erfolge haben wir unverändert Nachholbedarf in der Entwicklung des demokratischen Bewusstseins. Bis heute ist eine Parteienaversion im Land zu beobachten: die völlig selbstverständliche Ausgrenzung der Parteien bei vielen Veranstaltungen auf kommunaler Ebene.

(Galau [AfD]: Aha!)

Notwendiger politischer Streit wird viel zu schnell als Parteiengezänk gewertet. Streit gehört aber zur Politik. Eine lebendige Zivilgesellschaft braucht engagierte Menschen. Parteien gehören in den öffentlichen Raum. Ohne sie funktioniert unser Staatswesen bald nicht mehr. Aber angesichts der lächerlichen Mitgliederzahlen all unserer Landesparteien ist unverkennbar, dass die Parteiendemokratie an ihre Grenzen stößt und weiterentwickelt werden muss. Unsere Verfassung kennt keinen Alleinvertretungsanspruch der Parteien.

(Galau [AfD]: Wir haben kräftigen Zuwachs!)

Von Anfang an wurde das Korrektiv der direkten Demokratie von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden vorgesehen.

Die Volksbegehren gegen die Massentierhaltung und zum BER – Nachtflugverbot sowie gegen eine dritte Startbahn – sind Weckrufe an die Regierungsparteien, ihren Kurs zu ändern, wenn sie nach 2019 noch regieren wollen. Aber unverändert besteht der Bedarf, die direkte Demokratie zu stärken: Zulassung der freien Unterschriftensammlung bei Volksbegehren und eine Verringerung der viel zu hohen Quoren bei Volksentscheiden.

(Beifall B90/GRÜNE)

Nach 25 Jahren ist nicht nur unsere grundsätzlich gute Verfassung, sondern sind auch die Verwaltungsstrukturen in die Jahre gekommen, wobei alles, was jetzt an Neuzuschnitten diskutiert wird, eine Kleinigkeit ist im Vergleich mit der Bildung unseres Bundeslandes und dem damaligen Zusammenfügen bzw. Auseinanderreißen von Bezirksverwaltungen, Kommunalverwaltungen, Kreis- und Amtsverwaltungen. Weder bei der Gründung des Landes noch bei der ersten Verwaltungsreform waren die massiven Bevölkerungsverluste in den Randregionen vorherzusehen. Wir Grünen teilen die Auffassung, dass der demografische Wandel und die steigenden Ansprüche an die Kommunalverwaltungen auch einen Wandel in den kommunalen Strukturen mit sich bringen müssen. Aber wenn am Ende der einzige Erfolg darin bestünde, größere Verwaltungseinheiten gebildet zu haben, dann hätten Sie uns nicht auf Ihrer Seite.

Natürlich geht es bei der Kommunalreform auch um Finanzen. Es geht darum, die Finanzkraft der berlinnahen Kommunen zur Entlastung der strukturschwachen Gemeinden bei der Kreisumlage zu nutzen. Es geht darum, die auch durch eine unzureichende Haushaltsaufsicht des Innenministeriums verschuldete finanzielle Notlage der kreisfreien Städte anzugehen. Dies darf aber nicht zulasten von sparsam wirtschaftenden Kommunen gehen, denen das Finanz- und das Innenministerium nun 200 Millionen Euro aus den Rippen schneiden wollen. Uns Bündnisgrünen geht das zu weit, da haben Sie uns nicht auf Ihrer Seite.

Worum es uns Bündnisgrünen allerdings geht, ist eine stärkere Demokratisierung auf kommunaler Ebene. Die Wahl des Amtsdirektors muss raus aus den Hinterzimmern und in die Hände einer gewählten Amtsgemeindevertretung. Die Möglichkeiten für Bürgerentscheide sollen erweitert werden. Das sind Verbesserungen, für die es sich zu streiten lohnt. Wir bedauern sehr, dass sich die gesamte öffentliche Diskus-sion auf Kreiszuschnitte und die Einkreisung der kreisfreien Städte fokussiert. Die Kreisreform und die Bildung von Amtsgemeinden müssen aus unserer Sicht miteinander verknüpft werden.

Die schlechten Zustimmungswerte zur Kommunalreform in der neuen Meinungsumfrage machen deutlich, dass es keine gute Idee der SPD war, die Verwaltungsreform aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Wenn Rot-Rot die Verwaltungsreform umsetzen will, dann muss Ministerpräsident Woidke dafür kämpfen. Dieses Kämpfen habe ich heute bei Ihnen vermisst, Herr Ministerpräsident. Von Ihnen war kein einziges Wort zur Kommunalreform zu hören – dem einzigen echten Reformvorhaben von Rot-Rot in dieser Legislaturperiode. Man hat den Eindruck, dass Sie angesichts der noch zu leistenden Überzeugungsarbeit kalte Füße bekommen haben, um nicht zu sagen Eisbeine.

(Beifall B90/GRÜNE und AfD)

Mit dem freundlichen Ausblenden der Verwaltungsreform legen Sie den Eindruck nahe, dass Sie Ihre sich redlich abmühenden Minister im Regen stehen lassen, um sich die Diskussion aus sicherer Entfernung anzusehen. Wir hielten aber auch nichts davon – an Herrn Ness gerichtet –, die Verwaltungsreform mit einer Einstimmen-mehrheit bei drei Enthaltungen durch den Landtag zu bringen.

Gerade weil die Verwaltungsreform erforderlich ist, hilft dem Land – jetzt richte ich mich an die CDU – Fundamentalopposition nicht weiter. Wenn wir die Kommunalreform, die in anderen ostdeutschen Bundesländern unter der Führung der CDU schon durchgeführt wurde, hierzulande nicht gegen die Wand fahren wollen, dann müssen jetzt alle einen großen Schritt aufeinander zugehen. Es geht nicht darum, die große Konsenssoße über alle Ungereimtheiten zu kippen, sondern darum, die Verwalt tungsstrukturen gemeinsam für die Zeit des demografischen Echos nach 2030 zukunftsfest zu machen. Denn wir alle wissen, dass selbst dann, wenn die Geburtenrate leicht ansteigen sollte und wir einen zusätzlichen Zuwachs von 30.000 Menschen pro Jahr aus dem Ausland haben sollten, die Bevölkerungsverluste in der Peripherie weitergehen werden. Ich finde es ausgesprochen erfreulich, dass der Zuzug von Flüchtlingen in manchen Gemeinden und in Diskussionen vor Ort als Hoffnungsschimmer gesehen wird. Ich hoffe, dass das Beispiel Golzow im wahrsten Sinne des Wortes Schule macht, wo gezielt Flüchtlingsfamilien mit Schulanfängern gesucht werden, um die örtliche Schule zu stabilisieren.

(Beifall B90/GRÜNE und vereinzelt DIE LINKE)

Allerdings werden die Prignitz und Elbe-Elster – ich beziehe Frankfurt (Oder) einfach mal mit ein, auch wenn es dort gefährlich ist, aus der Statistik zu zitieren – nicht gerade zum Ziel-1-Gebiet für Flüchtlinge und Arbeitsmigranten werden. Das liegt garantiert nicht an einer fehlenden Aufnahmebereitschaft. Wo Erwerbsarbeitsplätze fehlen, da bleibt niemand auf Dauer. Das lässt sich an einem historischen Beispiel, nämlich dem Beispiel der Spätaussiedler gut belegen. Nach 1987 kamen ungefähr 3 Millionen Spätaussiedler, zumeist aus der ehemaligen UdSSR, nach Deutschland, so auch zum Beispiel die 1984 in Krasnojarsk geborene Helene Fischer. Die Anzahl der Aussiedler hatte ihre Spitze im Gründungsjahr Brandenburgs 1990 mit 400 000 Einwanderern erreicht und ist erst seit 1993, als 218 000 Menschen einreisten, stark rückläufig.
Auch diese Spätaussiedler wurden zentral registriert und wie die Flüchtlinge heute nach dem Königssteiner Schlüssel auf die Länder verteilt. Obwohl Brandenburg zwischen 50 000 und 75 000 Menschen zugewiesen wurden – so genau kann man es heute nicht mehr feststellen –, lebten nach dem Mikrozensus von 2012 nur noch 28 000 Spätaussiedler hier. Die anderen dürften, soweit sie nicht verstorben sind, unser Bundesland wieder verlassen haben.

Den erhöhten Anforderungen bei der Aufnahme der russischen Spätaussiedler – damals standen übrigens genau dieselben Vorurteile im Raum, wie sie heute von Herrn Gauland gegenüber den Flüchtlingen formuliert wurden – begegnete die Bundesregierung mit einem Sonderprogramm, in dessen Mittelpunkt die Schaffung von Wohnraum, Sprachförderung, die erleichterte Anerkennung von Qualifikationen und die besondere Förderung jugendlicher Aussiedler standen. Diese Maßnahmen dürften dazu beigetragen haben, dass die Integration der Spätaussiedler mittlerweile als gelungen betrachtet wird. Das Beispiel zeigt aber auch auf, dass es mit der Zuwei-sung von Wohnraum und Sprachunterricht nicht getan ist, sondern auch Erwerbsmöglichkeiten vorhanden sein müssen. Für die Integration von Zuwanderern gibt es drei Grundvoraussetzungen: ein Dach über dem Kopf, Bildungsangebote, das heißt in erster Linie Deutschkurse, und Erwerbsarbeit.

Aber wenn man will, dass die Menschen nicht nur ankommen, sondern wirklich heimisch werden und nicht der verlorenen Heimat nachtrauern, dann braucht es eine aufnahmebereite Gesellschaft. Diese Aufnahmebereitschaft war in den frühen 90er-Jahren wenig ausgeprägt. Wir sollten nicht vergessen, dass damals neben den Spätaussiedlern eine große Zahl von Flüchtlingen infolge der Kriege auf dem Balkan zu uns kam. 1990 stellten fast 200.000 und 1993 440.000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag, sodass – Aussiedler und Asylbewerber zusammengerechnet – im Jahr 1990 rund 600.000 Menschen und im Jahr 1993 650.000 Zufluchtsuchende in Deutschland eintrafen – ich ziehe den Vergleich zu den 800.000 Menschen, über die gegenwärtig gesprochen wird –, und zwar in einem Deutschland, das alle Hände voll zu tun hatte, den Einigungsprozess zu bewältigen und das in Ostdeutschland mit dem Zusammenbruch der industriellen Strukturen und einer apokalyptischen Mas-senarbeitslosigkeit konfrontiert war. Allein in Brandenburg gingen zwischen 1990 und 1992 410.000 Arbeitsplätze verloren. Die Flüchtlinge wurden häufig in kilometerweit abgelegen Bruchbuden untergebracht und mit Sachleistungen und diskriminierenden Einkaufsgutscheinen mehr schlecht als recht ausgestattet. Ein damit einhergehender Abschreckungseffekt war häufig politisch gewollt. Das grundgesetzlich gesicherte Asylrecht wurde faktisch und politisch ausgehöhlt.

Heute schreiben wir 2015 und die Zeiten haben sich in vielerlei Hinsicht geändert. Heute wird mit rund 800.000 Schutzsuchenden – nicht Asylbewerbern übrigens – gerechnet, in einer Zeit wirtschaftlichen Wachstums, sich abzeichnenden Fachkräftemangels und Einnahmeüberschüssen in vielen öffentlichen Haushalten. Da verstehen wir es, wenn die Kanzlerin angesichts dieser Herausforderung – es ist eine Herausforderung – sagt: Wir schaffen das! Wir haben wenig Verständnis für diejenigen, die gleich in Abwehrhaltung gehen oder gar ein lautes „Nee, das wollen wir gar nicht schaffen." hinausposaunen.

Nicht viel besser ist es übrigens, uns hier die de Maiziere'sche Giftliste in Antragsform vorzulegen und zu meinen, die Landesregierung müsste den Bundesinnenminister beim Versuch einer „Orbänisierung" der Asylpolitik unterstützen.

Da ist doch die Brandenburger CDU eigentlich schon viel weiter. Der Inhalt dieses Antrages widerspricht – und das sollten Sie wissen! – in großen Teilen dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12. Juni 2012. Mit dem Leitsatz „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren:“

(Beifall B90/GRÜNE und DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

hat das Bundesverfassungsgericht damals in seiner Begründung zum Grundsatzurteil zum Asylbewerberleistungsgesetz den Menschenrechtsschutz ins Zentrum auch der Ausgestaltung der tatsächlichen Lebensbedingungen von Asylsuchenden in Deutschland gestellt. Eben jener Grundsatz wird mit den beabsichtigten Maßnahmen zur Aufenthaltsbeschränkung in Erstaufnahmeeinrichtungen sowie den vorgeschlagenen Leistungskürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz ad absurdum geführt.

Um kurz auf die sicheren Herkunftsländer einzugehen: Wir halten das Konzept sicherer Herkunftsländer mit Artikel 16a Grundgesetz und dem dort verbrieften Grundrecht auf politisches Asyl für unvereinbar, da Asylbegehren von Menschen aus diesen Ländern pauschal als offensichtlich unbegründet gelten. Eine rechtsstaatlich einwandfreie und unvoreingenommene Einzelprüfung der Asylgesuche ist so nicht mehr möglich. Jede weitere Ausweisung sicherer Herkunftsländer höhlt das Grundrecht auf Asyl weiter aus und wird von uns strikt abgelehnt.

(Beifall B90/GRÜNE und DIE LINKE)

Neben schwerwiegenden grundsätzlichen Bedenken sprechen aber auch tatsächliche Gründe gegen das Konzept. So beabsichtigt die große Koalition neben Albanien und Montenegro auch den Kosovo als sicheres Herkunftsland auszuweisen. Den Ausschlag hierfür gibt jedoch nicht etwa eine gründliche Analyse dieser Länder hinsichtlich ihrer Menschenrechtslage, sondern die zuletzt gestiegene, inzwischen wieder fallende Asylantragszahl von Menschen aus diesen Ländern und deren geringe Anerkennungsquote. Das ist jedoch kein Beweis für die Sicherheit in diesen drei Ländern. Tatsächlich ist die Menschenrechtslage in ihnen besorgniserregend schlecht. Insbesondere Roma werden strukturell benachteiligt, haben kaum Zugang zu Arbeitsmarkt und Schulbildung und können nicht auf Unterstützung staatlicher Stellen – beispielsweise bei der Verfolgung von Straftaten – zählen.

Gegen eine allgemein ausreichende Sicherheitslage im Kosovo spricht außerdem das zuletzt am 19. Juni 2015 verlängerte Mandat für den bereits seit 1999 laufenden Einsatz der Bundeswehr im Kosovo, wo derzeit etwa 770 deutsche Soldatinnen und Soldaten stationiert sind, um bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen ethni-schen Gruppen zu verhindern. Ich denke, dass sollte zu denken geben und Anlass genug sein, dieses Konzept zurückzuweisen.

(Beifall B90/GRÜNE und DIE LINKE)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Zuwanderinnen und Zuwanderer sind nicht nur unsere Chance zum Ausgleich der demografisch bedingten Bevölkerungsverluste – sie sind unsere einzige Chance, wenn wir Wirtschaft und Daseinsvorsorge am Laufen halten wollen. Frau Sozialministerin Golze hat Anfang des Monats laut ND vor dem Brandenburger Wirtschaftsforum darauf hingewiesen, dass wir in Brandenburg bis 2030 rund 150.000 neue Pflegekräfte benötigen, um ausscheidende Kollegen zu ersetzen und der Zunahme an alten Menschen – Stichwort demografischer Wandel – gerecht zu werden.

Im selben Zeitraum haben wir weniger als 300.000 Schulabgänger pro Jahr. – Herr Galau, vielleicht kann einmal das Gequatsche dort drüben aufhören?

(Gelächter bei der AfD)

Berücksichtigt man, dass manche Schulabgänger ein Studium anstreben – schließlich brauchen wir auch Lehrerinnen und Lehrer in Brandenburg –, legt dies nach dem Bericht nahe, dass theoretisch alle Schulabgänger einen Gesundheitsberuf ergreifen müssten. So wird es natürlich nicht kommen. Aber diese Zahlen zeigen, dass sich gegenüber 1990 die Erwerbsmöglichkeiten für Zuwanderer – für Einheimische natürlich auch – deutlich verbessert haben und darum neue Chancen bestehen, Flüchtlinge im Land zu halten.

Dafür ist gelebte Willkommenskultur ein erster Schritt. Wir wissen alle, dass wir ohne die aus dem Boden sprießenden ehrenamtlichen Willkommensinitiativen überhaupt nicht bestehen könnten. In Willkommensinitiativen engagieren sich Menschen, indem sie Deutschunterricht geben, übersetzen, Flüchtlinge bei Amtsgängen begleiten oder Spenden verteilen. Machen wir uns aber nichts vor: Viele dieser ehrenamtlichen Hel-ferinnen und Helfer stoßen an ihre physischen und psychischen Grenzen. Wir brauchen auch Hilfe für die Helfer, Betreuung für die Betreuerinnen und Betreuer, wenn wir diese Willkommensinitiativen dauerhaft erhalten wollen.

Wir brauchen aber auch eine Menge von Kleinigkeiten, die das Leben sowohl für die Asylbewerber und Flüchtlinge als auch die Betreuer erleichtern. Ein Beispiel: Eine Willkommensbroschüre für Flüchtlinge existiert nicht wirklich. Es gibt eine offizielle Broschüre des Bundesinnenministeriums – „Willkommen in Deutschland!" – die zwar viel erläutert, aber wenig vom gesellschaftlichen Grundverständnis beschreibt. Das Land Brandenburg gibt keine eigene Broschüre heraus. Die von der RAA herausgegebene Broschüre ist vergriffen, es gibt sie nur noch im Internet – es fehlt das Geld, sie wieder aufzulegen. Was auch ein Problem ist: Sie ist nicht in Arabisch, sondern in Deutsch verfasst. Was soll das helfen? Das ist unzureichend. Sie müsste wenigstens in Englisch sein, damit eine Verständnismöglichkeit geschaffen wird. Das ist ein einfaches, aber gutes Instrument, um einen Beitrag zur Verbesserung der Arbeit der Willkommensinitiativen zu leisten.

Wenn wir die Chance nutzen und Flüchtlinge dauerhaft für uns gewinnen wollen, dann reicht es aber nicht, die Willkommensinitiativen finanziell oder emotional zu unterstützen. Bildungsangebote müssen ausgeweitet und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden; wir müssen – für einheimische Bedürftige und Migranten gleichermaßen – preiswerten Wohnraum schaffen; in neuen Wohngebäuden müssen Deutsche und Zuwanderer gleichermaßen unterkommen, um eine Ghettobildung wirksam zu verhindern.

(Beifall B90/GRÜNE, vereinzelt SPD und DIE LINKE)

Bei manchen Brandenburgern aufkeimende Neidaffekte werden nur dann wirksam zu unterbinden sein, wenn erkennbar wird, dass die Aufnahme von Flüchtlingen nicht mit einer Verschlechterung der eigenen sozialen Situation einhergeht. Deshalb sind alle Forderungen richtig, die den Bund zur Kostenübernahme verpflichten, ist es richtig, die Städtebauförderung umzukrempeln, ist es notwendig, die Schulen insgesamt mit mehr gut ausgebildeten jungen Lehrkräften zu versorgen. Nicht nötig sind dagegen immer neue Diskussionen über immer neue Abschottungsmechanismen, sind Versuche, so viele Flüchtlinge wie möglich vor den Grenzen der EU zu halten.

(Beifall B90/GRÜNE, DIE LINKE sowie vereinzelt SPD)

Die Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden ist keine Tages-, sondern eine langfristige Aufgabe. Sie ist für unser Land die gewaltigste Herausforderung seit der Wiedervereinigung. Unsere Aufgabe als Landtag ist es, gemeinsam mit den Kommunen dazu beizutragen, dass aus dieser Herausforderung keine Überforderung wird: nicht für die Flüchtlinge, nicht für die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, auch nicht für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen. Wir sind der festen Überzeugung: Wenn wir uns diese Aufgaben zu eigen machen und bewältigen wol-len, dann schaffen wir das auch. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, DIE LINKE, BVB/FREIE WÄHLER Gruppe sowie der Abgeordneten Augustin [CDU])

>> Zum Entschließungsantrag „Aufnahme, Betreuung und Integration auch unter den neuen Rahmenbedingungen gewährleisten“ der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, SPD, CDU und Linke und der BVB/FREIE WÄHLER Gruppe (pdf-Datei)