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Benjamin Raschke spricht zur Aktuellen Stunde auf Antrag unserer Fraktion „Wie sichern wir eine unabhängige, selbstbestimmte und leistungsfähige Justiz?“

Sehr geehrte Gäste, Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Dass jetzt in Brandenburg neben Kitaerzieherinnen, Antiwindkraftinitiativen, Vattenfall-Mitarbeitern und Tierschützern auch Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zum ersten Mal auf die Straße gegangen sind, war, glaube ich, für uns alle ein Kulturschock. Es ist zwei Wochen her, aber ich habe das Gefühl: Wir alle sind noch dabei, das zu verarbeiten und einzuordnen. Die Richterinnen und Staatsanwälte ergründen: Wie fühlt es sich an in der neuen Rolle? Ministerium und Staatskanzlei fragen sich: Wie konnte das eigentlich passieren? Auch der Landtag und wir im Rechtsausschuss haben uns noch nie mit der Frage beschäftigt, wie man mit Richterinnen und Staatsanwälten, mit Vertretern der dritten Gewalt umgeht, die plötzlich auf die Straße gehen?

Mein Vorschlag wäre: Probieren wir es doch so wie bei jeder anderen Gruppe, die lautstark Forderungen stellt – schauen wir uns an, ob an den Forderungen etwas dran ist! Dann sollten wir überlegen, ob wir als Gesetzgeber etwas tun müssen. Ich darf heute als erster reden, deswegen will ich es gleich tun.

Wenn ich es richtig verstanden habe, haben die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte vor allem zwei Forderungen aufgestellt. Erstens sollen unsere Ermittlungsbehörden auch in Zukunft ordentlich ermitteln können. Zweitens sollen unsere Gerichte auch in Zukunft Zeit für die Bürgerinnen und Bürger haben. – Aus meiner Sicht ist beides völlig berechtigt.

Zur ersten Forderung: Dass die Staatsanwaltschaften auch in Zukunft noch ordentlich ermitteln können, ist keine Selbstverständlichkeit. Der momentane Trend geht in die ganz andere Richtung: Erstens werden Ermittlungen in Brandenburg immer langsamer; zweitens werden sie schleichend schlechter. Ein durchschnittlicher Fall war im letzten Jahr erst nach 6,1 Monaten bearbeitet, also nach über einem halben Jahr – Tendenz steigend. Auch die sogenannte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsquote, einer von vielen Indikatoren für Qualität, sinkt von Jahr zu Jahr. Dazu kommen immer mehr Berichte von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, dass sie wegen der völlig unrealistischen Planzahlen aus dem Ministerium und der Berge an Arbeit diese nicht mehr gut machen können. Kurzum: Aus unserer Sicht muss etwas getan werden – an der Forderung ist etwas dran. Sonst können die Staatsanwaltschaften in Zukunft nicht mehr ordentlich ermitteln.

Auch die zweite Forderung erscheint mir plausibel. Es muss etwas getan werden, damit die Gerichte noch Zeit für die Bürgerinnen und Bürger haben werden – in der Sprache der Juristen: damit der Justizgewährungsanspruch sichergestellt wird. Noch können – das hat uns der Präsident des Oberlandesgerichtes im Ausschuss deutlich versichert – mit dem aktuellen Personalbestand alle Fälle bearbeitet werden, die neu hinzukommen. Aber genau das ist das Problem. Wie die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte schieben auch die Gerichte einen riesigen Berg unerledigter Verfahren vor sich her. Auch sie werden immer langsamer.

Ein Fall aus Neuruppin hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht haben Sie in der Presse über ihn gelesen. Ein Mädchen – es war zwei Jahre alt und kleinwüchsig – hatte von der Krankenkasse nicht den Status als Schwerbehinderte anerkannt be-kommen. Die Eltern wandten sich ans Sozialgericht, das aber durch die vielen Hartz-IV-Fälle völlig überlastet war. Als das kleine Mädchen endlich zu seinem Recht kam, war es sieben Jahre alt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ist der Justizgewährungsanspruch durchaus in Frage gestellt. Was ist das Recht noch wert, wenn es nicht rechtzeitig kommt?

(Beifall B90/GRUNE und CDU)

Fazit: Ja, da ist etwas dran – wir müssen etwas tun, sonst sind unsere Gerichte nicht mehr für uns da. Wenn beide Forderungen der Demonstrierenden berechtigt sind, ist zu fragen, ob wir als Gesetzgeber etwas tun müssen. Vielleicht haben die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ihre Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft? Vielleicht müssen sie schneller und härter arbeiten? – Ich denke, wie immer im Leben ist bei dem einen oder anderen etwas dran. Aber selbst wenn man fest an Optimierungsdruck glaubt, ist nicht mehr viel zu optimieren.

An zwei Dingen kann man das gut ablesen: Erstens werden bei den Staatsanwalt-schaften immer mehr Ermittlungen gegen Auflage oder Zahlungen eingestellt. Zweitens werden vor Gericht immer häufiger die umstrittenen sogenannten Deals abgeschlossen, bei denen der Täter gegen ein Geständnis Strafrabatt bekommt und das Gericht dafür den Fall abschließen kann.

(Zuruf von der Fraktion DIE LINKE: Zahlen! Zahlen!)

Ganz offensichtlich versuchen unsere Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel den Trend zu weniger Qualität und längerer Bearbeitungsdauer zu stoppen und umzukehren. Aber offensichtlich reicht das nicht. Ich denke, die Richterinnen und Staatsanwälte tun, was sie können – aber alleine bekommen sie den Trend nicht in den Griff.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist für Sie am jetzt Gesagten etwas dran? Haben auch Sie das Gefühl: Ja, diese Forderungen sind nicht völlig von der Hand zu weisen? Ja, wir müssen gegen diese Entwicklung etwas tun? – Dann stellt sich die Frage: Was können wir tun?

Ich möchte drei Vorschläge in den Raum stellen: Wenn es erstens richtig ist, dass der Hauptgrund für die sinkende Qualität und immer längere Bearbeitungsdauer das fehlende Personal ist, dann reden wir über Geld, darüber, dass wir der Justiz eigentlich mehr Stellen bewilligen müssten. Aber das ist nicht heute Gegenstand der Debatte, sondern morgen bei der Diskussion über den Justizhaushalt. Setzen wir zweitens ganz am Anfang der Ermittlungen an: Lassen Sie uns bei der Polizei wieder Spezialisten ausbilden, die die Arbeit am Tatort wirklich beherrschen. Das würde die Qualität der Ermittlungen auf der ganzen Linie verbessern. Lassen Sie uns zusammen überlegen, wie wir das wieder einführen können. Drittens – das ist am Wichtigsten – haben bisher wir Parlamentarier, die Richterinnen und Richter, die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und der Justizminister viel aneinander vorbeigeredet. Bei der Demonstration war der Minister nicht da. Als wir im Rechtsausschuss mit dem Minister über die Forderungen diskutierten, hatten die Richter und Staatsanwälte kein Rederecht. Es wäre besser, miteinander zu reden. Machen wir es doch so wie beim Landesverfassungsgericht: Wenn dessen Haushalt beraten wird, nimmt es an den Beratungen im Ausschuss teil. Warum übertragen wir nicht das, was dort gut funktioniert, auf die anderen Gerichte? Holen wir doch in Zukunft bei Haushaltsverhandlungen eine Vertretung der Präsidien in unsere Ausschüsse. Das hätte den Vorteil, dass wir die Informationen nicht nur über den Justizminister, sondern direkt aus erster Hand bekommen und die unabhängige dritte Gewalt noch ein Stückchen unabhängiger wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf Ihre Sicht der Dinge und Ihre Vorschläge. Ich habe drei in den Raum gestellt, die ein bisschen einsam sind. Wenn sie Ihnen gefallen, dann nehmen Sie sie bitte mit! – Vielen Dank.

(Beifall B90/GRÜNE und CDU)

Zweite Redezeit

Liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlichen Dank für die Debatte. Sie haben vorhin gemerkt, ich habe als – wie Herr Schulze sagte – „Vertreter einer seriösen Oppositionpartei“ bei diesem Thema einen sehr gemäßigten Ton anzuschlagen; ich will das auch fortsetzen.

Ich habe aus der Debatte drei Argumente herausgehört. Das erste Argument war: Wir tun ja schon was. – Das stellt, glaube ich, tatsächlich keiner in Abrede, aber wir be-zweifeln, dass das genug ist.

(Beifall B90/GRÜNE)

Argument Nummer 2: Wir müssen gar nicht so viel mehr tun, weil die Lage gar nicht so schwarz ist, wie die Opposition sie hier malt.

(Bischoff [SPD]: Aha!)

Ich denke, dieses Argument hat auch ein bisschen etwas für sich, denn aus unserer grünen Sicht ist die Lage tatsächlich nicht überall tiefschwarz und düster, eher so dunkel-/mittelgrau. Das Problem ist aber – das hat Christoph Schulze soeben gesagt – nicht die Lage, sondern das Problem sind die Entwicklungen. Insofern ist es irgendwie ein sehr bemerkenswerter Trick, wenn Sie sagen: Ja, die Belastungen sind zu hoch. Der Minister hat auch irgendwie deutlich gemacht: Ja, die Belastung steigt. Zudem ist auch überall durchgeschimmert: Wir werden tatsächlich langsamer, und wir werden tatsächlich schlechter. Da frage ich mich doch: Warum tun wir nichts? Ich glaube, der Grund liegt im Trick, den der Minister hier anwendet. Er sagt: Das Personalbedarfssystem, das Planungssystem PEBB§Y, ist ein ganz gutes Instrument. Es bildet leider nicht ab, wie die Qualität ist, und es bildet leider auch nicht ab, wie sozu-sagen andere Dinge als neue Fälle mit der Wirklichkeit zu tun haben. Es hat sozusagen diese Nachteile, aber wir verwenden es trotzdem. Wir verlassen uns einzig und allein auf ein Personalbedarfssystem, das danach schaut, wie die neuen Fälle sind, die bei Gericht reinkommen. Gibt es mehr neue Fälle, gibt es mehr Personal; gibt es
weniger neue Fälle, gibt es weniger Personal.

(Bischoff [SPD]: Bundesweit!)

– Das ist bundesweit so, das ist richtig. Die Frage ist nur: Müssen wir daran festhalten, das genauso zu machen und uns ausschließlich darauf zu verlassen?

Frau Mächtig war ja völlig zu Recht stolz darauf, dass wir ein ganz tolles liberales, modernes Strafvollzugsgesetz haben. Das Problem ist, dass wir gar nicht das Personal haben, um dieses moderne Gesetz umzusetzen.

(Beifall B90/GRÜNE sowie vereinzelt CDU)

Das wird in der Personalbedarfsplanung gar nicht berücksichtigt.

Das dritte Argument war: Ja, wir würden ja gern etwas tun, aber wir können nicht. Wir müssen ja sparen, und überall muss gespart werden. – Ich denke, natürlich ist auch das richtig, aber die Frage ist: Was wollen wir uns in der Justiz eigentlich leisten? Wollen wir uns diesen Trend leisten, immer schlechter und immer langsamer zu werden? Ich würde sagen, wenn Minister Markov auf die herausgehobene Stellung der dritten Gewalt abhebt und sagt, sie sei etwas ganz Besonderes, dann reichen die vielen Dankesworte, die wir hier zu Recht gehört haben, gar nicht aus, dann müssen wir tatsächlich etwas tun.

Ich sage trotzdem Danke für die Debatte, denn wir sind einen kleinen Schritt weitergekommen. Ich hatte vorhin drei Vorschläge in den Raum gestellt und gehofft, dass sie nicht einsam dort bleiben. Sind nicht einsam geblieben. Der erste Vorschlag war: mehr Stellen. Da hat sich ein wenig getan. Auf Druck der Opposition gab es einen kleinen Teilerfolg im Ausschuss, aber das ist aus unserer Sicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

(Frau Mächtig [DIE LINKE]: Welchen Antrag meinen Sie da?)

Der zweite und der dritte Vorschlag waren, dass wir in den Dialog kommen und mehr Autonomie wagen. Wir haben gestern Abend, kurz vor der Sitzung heute, dazu einen Brief vom Minister mit der Einladung zum 3. Juli erhalten. Dafür schon einmal vielen herzlichen Dank. – Auch das ist ein kleiner Schritt.

Zu den drei Vorschlägen hat Frau Mächtig noch einen vierten gestellt, über den man sicherlich auch reden kann, nämlich mehr Flexibilisierung. Gibt es nicht doch irgendwelche Möglichkeiten, wie wir Richter zu Stellen, bei denen es brennt, von Stellen, bei denen es weniger brennt, schicken können? Das wäre so eine Art Richterfeuerwehr. Ich glaube, man muss tatsächlich darüber reden, auch wenn es schmerzhaft ist. Solch eine Feuerwehr kann jedoch nur akute Brände löschen und wird das Problem insgesamt nicht lösen.

Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Vorschläge sind gut, und wir brauchen mehr Vorschläge. Was wir aber wirklich brauchen, ist ein Personalplanungssystem, das nicht allein prüft, wie die Eingangszahlen sind. Wir wissen aus der Ernäh-rungslehre: Pepsi allein ist ungesund, das reicht nicht aus. – Vielen Dank.