Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Brandenburger Landtag hat heute ein Gutachten vorgestellt, das die Auswirkungen von Binnengrenzkontrollen aus sozialwissenschaftlicher Sicht untersucht. Seit Mitte Oktober gelten die Kontrollen auch an der brandenburgisch-polnischen Grenze. Das Gutachten geht der Frage nach, ob die Erfolgsmeldungen zur Wirksamkeit von Grenzkontrollen valide sind.
Die Studie zeichnet folgende Situation: In Brandenburg sind lediglich drei von den ca. 20 Grenzübergängen rund um die Uhr besetzt: die Übergänge an der Stadtbrücke sowie an der A12 bei Frankfurt (Oder) und an der A15 bei Forst. Ausweichbewegungen auf die kleinen Grenzübergänge und auf die Grüne Grenze sind wahrscheinlich. Zudem werden Einreisen und Einreiseversuche erfasst, nicht aber Personen. In den hohen Zahlen stecken also viele Mehrfacheinreisen. Mitgezählt werden auch – zumindest zeitweise – Schutzsuchende, die in andere Länder durchreisen. Wenn von Straftaten oder Aufgriffen die Rede ist, ist nicht immer klar, ob es tatsächlich nur unerlaubte Einreisen oder auch andere Delikte wie die Einfuhr verbotener Böller gezählt werden. Hinzukommt der Kontrolleffekt: Wo mehr Personal kontrolliert, werden automatisch mehr Fälle registriert.
Sahra Damus, Abgeordnete für Frankfurt (Oder) und Märkische Oderland, erklärt dazu:
„Die Statistiken, auf die die Innenminister sich berufen, sind unvollständig, selektiv und verzerrt. Und natürlich stellen sich die Menschen auf Kontrollen ein. Selbstverständlich finden Ausweichbewegungen statt, wenn nur ein Bruchteil der Grenze überhaupt kontrolliert werden kann. Wir brauchen hier eine ehrliche Debatte! Die Grenzkontrollen scheinen eher der Demonstration von Stärke und Kontrolle in einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte zu dienen, als dass sie faktenbasiert irgendein Problem lösen könnten.“
Als zentrales Argument für die Kontrollen wird immer wieder auch der Kampf gegen Schleuser genannt. Laut bisher veröffentlichten Zahlen sind die Aufgriffe von Schleusern jedoch sogar zurückgegangen. So wurden bundesweit von Januar bis Mitte Oktober 2023 rund 1.700 Schleuser aufgegriffen (das entspricht rund 179 Aufgriffen pro Monat). Von Mitte Oktober 2023 bis Ende März 2024 waren es 708 (128 pro Monat). Der Aufgriffsort – ob tatsächlich in einer stationären Kontrolle, oder doch im Hinterland –, wird dabei gar nicht angegeben.
Dazu Sahra Damus:
„Nicht nur, dass die Zahlen rückläufig sind: Das Bild vom skrupellosen Schleuser wird unzulässig vereinfacht und muss immer wieder herhalten für populistische Argumentationen. Die Hintermänner, die höherrangige Aufgaben in der organisierten Kriminalität übernehmen, werden so nicht gefasst. Auch Menschen, die als letztes Glied in der Kette einen PKW über die Grenze steuern oder Menschen zu Fuß begleiten gelten als Schleuser. Wirklich gefährliche Schleusungen hingegen lassen sich laut Gewerkschaft der Polizei besser durch flexible Kontrollen eindämmen. Schleusungen müssen differenziert aufgeschlüsselt werden.“
Mehr Sachlichkeit ist auch gefordert im Umgang mit den Schutzsuchenden. Die Autor*innen des Gutachtens heben hervor, dass sich ein Trend etabliert hat, Geflüchtete grundsätzlich als „Illegale“ zu diskreditieren („fake illegals“), obwohl laut bereinigter Gesamtschutzquote rund 70 Prozent der Antragsstellenden einen Schutzstatus erhielten. Zudem gibt es Hinweise auf rechtswidrige Zurückweisungen trotz gestellter Asylgesuche.
Demgegenüber betont Benjamin Raschke, Vorsitzender der Fraktion :
„Wir erwarten, dass geltendes Recht umgesetzt und keine Symbolpolitik betrieben wird. Jeder Mensch hat nach UN-Menschenrechtskonvention das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Selbst eine unerlaubte Einreise ohne Visum ist nach Genfer Flüchtlingskonvention straffrei, wenn Asyl beantragt wird. Daran ändern auch stationäre Grenzkontrollen nichts. Als Bündnisgrüne fordern wir eine Untersuchung der Zurückweisungspraxis der Bundespolizei. Denn allgemeine Zurückweisungen sind an Binnengrenzen rechtlich nicht möglich: Nur in Erstaufnahmeeinrichtungen kann das Asylgesuch und die mögliche Zuständigkeit anderer Staaten geprüft werden."
Der Schengener Grenzkodex schreibt vor, dass Grenzkontrollen verhältnismäßig sein müssen und nur als letztes Mittel eingesetzt werden dürfen. Das vorliegende Gutachten zeigt jedoch, dass einerseits die Wirkung von Grenzkontrollen überschätzt oder überhöht wird. Andererseits die Belastungen für Menschen und Unternehmen in der Grenzregion ausgeblendet werden – ebenso wie die immensen Kosten.
Benjamin Raschke fasst abschließend zusammen:
„Es braucht echte Lösungen auf anderen Ebenen: Eine gerechte Verteilung der Geflüchteten in der EU, eine Bekämpfung von Fluchtursachen und die Schaffung geregelter Fluchtwege. Und es braucht eine bessere Unterstützung der Kommunen für Kitas, Schulen, Wohnungen und Sozialarbeit. Das nützt am Ende allen.“
Das Gutachten kann hier heruntergeladen werden.
Es wurde erstellt von Dr. Marcus Engler, einem Migrationsforscher des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung. Die bündnisgrüne Landtagsfraktion ist im engen Austausch mit grünen Migrationsexpert*innen im Europaparlament und der Bundestagsfraktion. Das Gutachten ist der erste Teil einer größeren Untersuchung aus migrationspolitischer Sicht. Der zweite Teil soll im Sommer publiziert werden.