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Ursula Nonnemacher spricht zu unserem Antrag „'Alle inklusive in Brandenburg' - Das Bundesteilhabegesetz verbessern“

- Es gilt das gesprochene Wort!

Anrede!

Leben, wie ich will? Das wollen im Land Brandenburg ungefähr 370 Tausend Menschen mit Behinderung sicher genauso wie diejenigen ohne Behinderung. Und ganz sicher ist jeder einzelne dieser 370 Tausend Menschen so unterschiedlich in ihren und seinen Fähigkeiten, Einschränkungen, Wünschen, Vorstellungen und Problemen wie jeder und jede Einzelne von uns in diesem Raum. Aber im Unterschied zu den meisten von uns erfahren Menschen mit Behinderung immer wieder, dass sie eben nicht leben können, wie sie wollen. Viele von ihnen teilen die Erfahrung, dass sie besonders unterstützt werden und um Hilfe bitten müssen. Und viele teilen die Erfahrung, dass sie oft lange nicht die Unterstützung bekommen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben bräuchten.

Dabei hat Deutschland bereits vor sieben Jahren das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) ratifiziert. Die UN-BRK beschreibt die universellen Menschenrechte aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen. Teilhabe, das stellt die UN-BRK klar, ist ein Menschenrecht, keine Fürsorge oder Wohltat.

Als zweites Bundesland hat sich Brandenburg auf den Weg gemacht, die UN-BRK mit einem eigenen Maßnahmenpaket umzusetzen. Damit wurde hier im Land begonnen, eine Kultur der Aufmerksamkeit und des Respekts gegenüber behinderten Menschen zu fördern. Die Bundesregierung hat Brandenburg dafür im vergangenen Jahr ausgezeichnet. Das freut uns wirklich, und da könnten wir uns jetzt eigentlich denken, schön, das Land und der Bund sind auf einem guten Weg. Aber ziemlich harsch wirkt die Beurteilung zur bundesweiten Umsetzung der UN-BRK durch die Vereinten Nationen: Behinderte Menschen können in Deutschland ihre Menschenrechte noch immer nicht im vollen Umfang wahrnehmen. Da wird leider klar, dass wir noch einiges vor uns haben. Ein wichtiger weiterer Schritt zur Umsetzung der UN-BRK wäre ein Bundesteilhabegesetz, das sich konsequent vom bevormundenden Fürsorgegedanken verabschiedet.

Der mittlerweile vorliegende Kabinettsentwurf zum Bundesteilhabegesetz bedeutet allerdings keinen Systemwechsel. Im Gegenteil, der Fürsorgegedanke ist nach wie vorbestimmend. Zentrale Vorgaben der UN-BRK in Bezug auf Selbstbestimmung und Teilhabe werden mit diesem Gesetzentwurf nicht eingehalten. Damit hält er nicht das, was Union und SPD im Koalitionsvertrag versprochen haben – nämlich Menschen mit Behinderung (ich zitiere) „aus dem bisherigen Fürsorgesystem herauszuführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickeln.“

Für uns Bündnisgrüne steht aber weiter fest: Teilhabeleistungen dürfen sich nicht mehr an sozialhilferechtlichen Maßstäben, sondern am menschenrechtlich gebotenen Ziel der vollen und gleichberechtigten Teilhabe orientieren. Und noch viel mehr dürfen sich durch das Bundesteilhabegesetz keine Verschlechterungen für Menschen mit Behinderung im Vergleich zur aktuellen Rechtslage ergeben! Deshalb haben wir den vorliegenden Antrag gestellt. Wir wünschen uns, dass die Landesregierung ihre Einflussnahmemöglichkeiten nutzt, um Verbesserungen an diesem Gesetzentwurf zu erwirken.

Wir wünschen uns vor allem Änderungen beim Wunsch- und Wahlrecht, der Zusammenlegung von Teilhabeleistungen und der Anwendung eines UN-BRK-konformen Behinderungsbegriffs.

Bisher soll durch das Wunsch- und Wahlrecht sichergestellt werden, dass den Wünschen von Menschen mit Behinderung bei Leistungen zur Teilhabe entsprochen wird, und dabei Rücksicht auf ihre persönliche Lebenssituation genommen wird. Darunter fällt zum Beispiel die Entscheidung, wo und mit wem jemand leben möchte. Aber bereits unter der geltenden Rechtslage erleben Menschen mit Behinderungen häufig, dass ambulante Unterstützung gegen ein stationäres Angebot, ein Persönliches Budget gegenüber Sachleistungsoptionen oder ein selbstorganisiertes Arbeitgebermodell gegen Pflegedienste verliert. Das liegt oft daran, dass Verwaltungen bekannte Lösungen, vermeintlich sichere und erprobte Konzepte und weniger verwaltungsaufwendige Bewilligungen bevorzugen. Der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes zeigt, das Wunsch- und Wahlrecht wird zukünftig noch stärker eingeschränkt werden. Es soll auf „angemessene“ Wünsche der LeistungsbezieherInnen beschränkt werden. Wünsche sind zukünftig nicht angemessen, „wenn … die Höhe der Kosten der gewünschten Leistung die Höhe der Kosten für eine vergleichbare Leistung von Leistungserbringern … unverhältnismäßig übersteigt“. Hinzu kommt noch, dass der bislang schützende Grundsatz „ambulant vor stationär“ entfällt, weil im Kabinettsentwurf nicht mehr zwischen ambulanten und stationären Leistungen unterschieden wird. Das klingt auf den ersten Blick wie ein Sieg der emanzipatorischen Behindertenbewegung, weil so rechtlich stationäre Wohneinrichtungen für behinderte Menschen von einem Tag zum nächsten abgeschafft werden. Faktisch werden die stationären Einrichtungen aber natürlich nicht aufgelöst. Die Sozialämter werden Menschen mit Assistenzbedarf aus Kostengründen in ein Heim drängen können, einfach weil das in vielen Fällen günstiger wäre als ein ambulant betreutes Wohnen in den eigenen vier Wänden. Dies stellt einen eklatanten Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention dar, die Menschen mit Behinderung zu sichert, dass sie selbst über Wohn- und Lebensform entscheiden können und nicht gegen ihren Willen in einem Heim leben müssen.

Bestimmte Leistungen, zum Beispiel Assistenz, Fahrdienste, Ruf- und Nachtbereitschaften sind für viele Menschen mit Behinderung eine unabdingbare Voraussetzung, um ein selbstbestimmtes Leben gleichberechtigt mit anderen führen zu können. In Zukunft sollen solche Teilhabeleistungen gemeinsam in Anspruch genommen werden können. Wir finden, solange dieses sogenannte Poolen freiwillig erfolgt, ist das nicht nur okay, sondern auch sinnvoll. Mit dem Kabinettsentwurf sollen aber Träger der Eingliederungshilfe die Möglichkeit bekommen, dass Leistungen vorrangig gepolt in Anspruch genommen werden müssen. Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, meint dazu (Zitat) „…Es darf nicht im Ermessensspielraum des Trägers liegen, Leistungen nur noch für eine Gruppe und nicht mehr individuell anzubieten. So steht es aber im Gesetz. Wenn einer ins Kino gehen will, bekommt er dafür zwar eine Assistenz. Aber er soll bitte schön gleich fünf oder sechs andere mitnehmen, damit der Bus nur einmal fahren muss.“

Wir finden, das schränkt das Selbstbestimmungsrecht massiv ein und ist bevormundend. Diese Bestimmung lehnen wir strikt ab!

Wir befürchten auch, dass das Bundesteilhabegesetz zu einer deutlichen Verkleinerung des Kreises der Leistungsberechtigten führen wird. Das Kriterium, das behinderte Menschen in fünf von neun Lebensbereichen Unterstützung brauchen müssen oder in drei Lebensbereichen auch mit Unterstützung keine Teilhabe möglich sein darf, wird von vielen der heute Leistungsberechtigten nicht erfüllt werden können. So haben beispielsweise sinnesbehinderte, psychisch beeinträchtigte oder mobilitätseingeschränkte Menschen häufig nur Unterstützungsbedarf in einem Bereich. Das ist für uns Bündnisgrüne nicht akzeptabel. Die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in eine inklusive Gesellschaft ist unser Ziel. Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert. Wir bitten Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, damit die Landesregierung über ihre Einflussmöglichkeit im Bundesrat die zu erwartenden Barrieren und Einschränkungen gleich wieder einreißen kann.

Unser Antrag wurde in den Ausschuss überwiesen.