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Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede!
Es läuft nicht rund mit der „ Komplexleistung Frühförderung“ im Land Brandenburg! Damit stehen wir zwar im bundesweiten Vergleich keineswegs allein dar, aber dies darf im Sinne der betroffenen Kinder und ihrer Familien keine Entschuldigung sein! So ist es sehr erfreulich, dass sich der Ausschuss für Arbeit, Soziales, Frauen und Familien in absoluter Einhelligkeit das Thema erneut auf den Tisch gezogen und am 22.8.2012 ein großes Fachgespräch zur Frühförderung und den neuralgischen Punkten durchgeführt hat. Die Resonanz darauf war so groß, dass die Veranstaltung im Plenarsaal stattfinden musste. Das Signal, wir müssen da alle gemeinsam noch einmal ran, hatte gewirkt!
Nach dieser sehr intensiven Auseinandersetzung mit allen an der Komplexleistung Beteiligten einigten sich die fünf Fraktionen im vorliegenden Antrag darauf, die Landesregierung um eine moderierende Begleitung des stockenden Umsetzungsprozesses und die Einrichtung einer "Fachgruppe Komplexleistung Frühförderung" zu bitten. Diese Fachgruppe wird Empfehlungen erarbeiten, die sie uns Ende 2013 vorlegen wird.
Die Fachgruppe wird prüfen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um Rechtssicherheit für die Praxis der Frühförderung in den 45 Brandenburger Frühförder- und Beratungsstellen sowie den vier sozialpädiatrischen Zentren herzustellen.
Die bisherigen Abstimmungs- und Schnittstellenprobleme bei der Frühförderung zeigen auf, dass eine Nachjustierung dringend erforderlich ist.
Mit der Komplexleistung Frühförderung wurde 2001 im SGB IX geregelt, dass ein interdisziplinäres System "Kindern, die von Behinderung betroffen oder bedroht sind, und ihren Familien ein abgestimmter Leistungskomplex von Beratung, Diagnostik, Förderung und Behandlung" zusteht. Durch die Verankerung im Rehabilitationsrecht sollte eine bestehende vielfältige Förderlandschaft angeglichen und divergierende Schnittstellen verknüpft werden. Verschiedenen Leistungen, für die unterschiedliche Träger zuständig sind - meist sind das Krankenkassen, Sozialhilfeträger oder die Jugendhilfe - sollen zu einer Leistung zusammengeführt werden. Kinder und ihre Eltern können so die notwendigen ärztlichen oder auch nicht-ärztlichen Leistungen, unabhängig von den Zuständigkeiten der Träger als "kleines persönliches Budget" aus einer Hand erhalten, ähnlich einem one-stop-shop!!
Zuständig für die Erbringung der Komplexleistung Frühförderung sind in Brandenburg Interdisziplinäre Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren. Um die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Koordination zu bieten, müssen die jeweiligen Anbieter mit den anderen Trägern Beziehungsnetze aufbauen, auch über verschiedene Regelungen der Sozialgesetzgebung hinweg. Diese Schnittstellenproblematik zeigt sich, sobald zwei oder mehrere gesetzliche Leistungen koordiniert werden müssen. Das klappt häufig nicht. Die Brandenburger Träger schlossen zwar eine Rahmenvereinbarungen zur Umsetzung der Frühförderung, aber ungeregelt blieben:
- die Bestandteile der Komplexleistung,
- Qualitätsstandarts,
- Unterschiedlicher Leistungstypen
- Verfahrensfragen und
- Finanzierungsfragen.
Aber mittlerweile haben sich auch die Kinder, die Bedarf an Frühförderung haben, verändert. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Lebenswelten und auch die Risiken für die kindliche Entwicklung z. T. gravierend verändert. Wir beobachten heute einen Wandel in den Behinderungsbildern! Eltern, deren Kinder als auffällig, aber nicht automatisch als Kinder mit Behinderung einzuordnen sind, treten vielleicht schon bei kleineren Entwicklungsverzögerungen, sprachlichen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten an die Frühförderstellen heran und fragen entsprechende Leistungen nach. Das führt zu eklatanten Steigerungsraten und erhöht den Druck auf die Kommunen, natürlich auch in finanzieller Hinsicht.
Heute brauchen Kinder, die verhaltensauffällig sind, ganz andere Förderkonzepte als das klassisch behinderte Kind früherer Jahre. 80% der Kinder in Frühförderstellen weisen signifikante Entwicklungsverzögerung unklarer Ätiologie auf, d.h. die Entstehung ist unklar. Nur 20% sind klar definierte körperliche, geistige oder Mehrfachbehinderungen, wie sie früher vorherrschend waren. Diese klassischen medizinisch definierten Behinderungen sind heute rückläufig, jedoch Sprach- und Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) steigen an.
Dieser starke Anstieg sollte zu denken geben! Eine nicht-altersgerechte Sprachentwicklung, gefolgt oder begleitet von Bewegungsstörungen und Befunden bei der sozialen und emotionalen Entwicklung - dies ist selten primär medizinisch bedingt. Aber natürlich bedarf es erst einmal einer exakten Diagnostik, um individuelle Förder- und Behandlungspläne aufzustellen, Teilhabeziele zu definieren und die wissenschaftlich signifikanten Verbesserungen festzustellen, die unsere isolierten Behandlungen bisher gerade nicht aufweisen. Entwicklungsstörungen unklarer Genese werden aber durch die undifferenzierte Anbahnung medizinisch-therapeutischer Behandlungen abrechenbar! So medikalisieren wir ursächlich soziale Probleme und wundern uns über mangelnde Wirksamkeit. Es sollte uns sehr zu denken geben, wenn in Deutschland mittlerweile 30% aller 3 bis 6 jährigen Kinder irgendeine Form von Therapie erhalten.
Besonders stark zugenommen hat die Ergotherapie. Aber braucht ein Kind, das vielleicht 6 Stunden täglich vor dem Fernseher verbringt und selten zum Spielen nach draußen geht primär Ergotherapie oder Logopädie oder braucht es nicht ganz etwas anderes?
Prof. Sohns von der Fachhochschule Nordhausen hat in seinem statement im Fachgespräch ein sehr eindrückliches Beispiel vorgestellt: 90% der Kindern im Grundschulalter in seiner Stadt werden mit dem Auto zur Schule gefahren. Diese „guten Eltern“ enthalten ihren Kindern aber die Möglichkeit vor, gemeinsam mit Gleichaltrigen Problemlösungsstrategien zu entwickeln, stolz auf eigene Leistungen bei der Bewältigung des Schulweges zu sein und sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad kindgerecht zu bewegen.
Frühförderung muss sich diesen vielen Herausforderungen stellen. Sie muss sehr umfassend, interdisziplinär, präventiv und vor allem familienorientiert sein. Sie muss die Probleme des Kindes im Familienkontext verstehen und behandeln und dabei die gesamte Familie stärken.
Dass die Umsetzung dieses wirklich anspruchsvollen Ziels besser und reibungsloser gelingt, dazu soll dieser interfraktionelle Antrag ein neues Startzeichen setzen. Die Fraktionen von CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es sehr, dass sich der Ausschuss problemorientiert und einmütig an dieses im wahrsten Sinnes des Wortes sehr komplexe Problem herangewagt hat. Wir hoffen und erwarten, dass unter Moderation der Landesebene alle Akteure ihre teil gute und engagierte, teil verbesserungswürdige Arbeit optimal vernetzen und Blockaden erfolgreich gelöst werden. Es reicht nicht, sich darauf zurückzuziehen, dass ein Versorgungsauftrag irgendwie erfüllt werde. Die Versorgung muss gut und vor allem muss sie wirksam sein. Im Sinne unserer Kinder muss endlich an einem Strang gezogen werden!
Die Oppositionsfraktionen werden dem Antrag geschlossen zustimmen.