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Gemeinsamer Brief an die EU-Kommission: Stationäre Grenzkontrollen
stellen eine massive Hürde für
unser Zusammenleben in Europa dar

Sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin, sehr geehrte Kommissionsmitglieder,

wir wenden uns heute mit Sorgen hinsichtlich der vom Bundesinnenministerium eingeführten stationären Grenzkontrollen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz an Sie. Auch die von Dänemark seit Jahren durchgeführten und von den Niederlanden angekündigten Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland bedeuten aus unserer Sicht massive Hürden für das Zusammenleben in Europa.

Mitte Oktober 2023 wurden an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz für zunächst 10 Tage nach Artikel 25ff. des Schengener Grenzkodex stationäre Grenzkontrollen eingeführt. Erklärtes Ziel und jahrelange Begründung dieser Grenzkontrollen ist die Reduktion sogenannter irregulärer Migrationsbewegungen nach Deutschland und die Bekämpfung von Schleuserkriminalität. Bis Mitte Dezember diente als juristische Grundlage u.a. Artikel 28 des Schengener Grenzkodex, nach welchem aufgrund einer konkreten Bedrohung mit sofortigem Handlungsbedarf bis zu zwei Monate Binnengrenzkontrollen eingeführt werden können. Am 15. Dezember 2023 wurden die Maßnahmen für weitere drei Monate verlängert, und Mitte Februar wurde die Verlängerung bis zum 15. Juni 2024 notifiziert. Das Bundesinnenministerium begründete wiederholt die Maßnahmen mit der derzeitigen migrations- und sicherheitspolitischen Lage.

Ebenfalls Mitte Oktober 2023 wurde die Notifikation für eine Verlängerung der Grenzkontrollen nach Österreich um weitere sechs Monate bis zum 11. Mai 2024 eingereicht. Eine neuerliche Notifikation einer Verlängerung bis zum 11. November 2024 wurde bereits eingereicht.

Der Schengener Grenzkodex von 2016 lässt als letztes Mittel und nach Abwägung der Verhältnismäßigkeit temporäre Binnengrenzkontrollen für klar definierte und begrenzte Zeiträume zu.

Die am 24. April 2024 vom Europäischen Parlament angenommene Reform des Schengener Grenzkodex ermöglicht, Binnengrenzkontrollen auf plötzliche, hohe und sogenannte unautorisierte Sekundärmigration zwischen Mitgliedstaaten zu stützen. Dies war zuvor explizit ausgenommen. Darüber hinaus beträgt die zulässige Maximaldauer der temporären Binnengrenzkontrollen nun drei statt zwei Jahre. Die seit über 8 Jahren bestehenden Binnengrenzkontrollen an der deutsch- österreichischen Grenze haben die Höchstfristen des Schengener Grenzkodexes um ein Vielfaches überschritten.

Ende Mai wurden die stationären Grenzkontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz um ein halbes Jahr verlängert. Das Bundesinnenministerium teilte mit, die angeordneten Kontrollen bis Mitte Dezember 2024 fortzusetzen.

2022 fällte der Europäische Gerichtshof ein Grundsatzurteil zu den österreichischen Grenzkontrollen zu Ungarn und Slowenien, welche seit Herbst 2015 mit wechselnder Bezugnahme auf unterschiedliche Artikel des Grenzkodexes existieren. Es wurde damals darauf verwiesen, dass auch eine anhaltende Bedrohung nicht die Maximaldauer der Binnengrenzkontrollen auszuhebeln vermag.

Ein aktuelles Rechtsgutachten stuft die Binnengrenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich erneut als „eindeutig rechtswidrig“ ein. Deutschland handelt aktuell, wie sieben andere EU-Mitgliedsstaaten, offensichtlich nicht konform mit dem Schengener Grenzkodex.

Zudem zeigt ein neues Fachgutachten, dass die beabsichtigte Wirkung der Grenzkontrollen und diesbezügliche Erfolgsmeldungen sehr fragwürdig und in vielen Fällen nicht statistisch belegt sind. Stattdessen gibt es Hinweise auf Ausweichbewegungen, Mehrfachzählungen und möglicherweise rechtswidrige Zurückweisungen.

Im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft, welche in Deutschland seit Mitte Juni ausgetragen wurde, gab es stationäre Kontrollen an allen Binnengrenzen, die bis nach den Olympischen Spielen fortgeführt wurden. Die Einführung temporärer stationärer Binnengrenzkontrollen zu den Großereignissen der Fußball-Europameisterschaft und der Olympischen Spiele sind als kurzzeitig befristete Maßnahmen nachvollziehbar. Danach muss ein Schengen-Mitgliedsstaat aber wieder zum offenen Schengenraum zurückkehren. Es gilt, Maßnahmen zu finden, die sowohl die Sicherheit gewährleisten als auch die rechtsstaatlichen Prinzipien und Grundrechte achten und so eine ausgewogene Balance herstellen.

Am Ende der beiden Großereignisse muss nun ein Ausstieg aus den teils jahrelangen stationären Grenzkontrollen stehen. Die Abwesenheit von Kontrollen an den Binnengrenzen ist ein wesentlicher Grundsatz des EU Rechts und das Grundprinzip des freien Schengenraums, der durch andauernde jahrelange stationäre Grenzkontrollen unterminiert wird. Für eine rechtskonforme Einhaltung muss die EU-Kommission sorgen. Denn die stationären Binnengrenzkontrollen führen zu Belastungen für Menschen und Unternehmen in den Grenzregionen, für Pendler*innen, den Handel und die Polizei selbst. Gerade jetzt in der Urlaubszeit werden Auswirkungen auf den Tourismus besonders deutlich. Die Gewerkschaft der Polizei hat mehrfach auf die enormen Kosten hingewiesen und die Wirksamkeit der Kontrollen verneint. Nach dem Schengener Grenzkodex muss eine Abwägung stattfinden, die aus unserer Sicht nicht getroffen wurde. Laut Kodex dürfen Grenzkontrollen nur nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung angeordnet werden und sie dürfen nur als letztes Mittel zum Einsatz kommen, die Notifikationsschreiben an die EU treffen dazu jedoch keine Aussagen.

Zudem befürchten wir, dass Geflüchtete nicht in jedem Fall die Möglichkeit erhalten ihr Grundrecht auf Asyl rechtsstaatlich prüfen zu lassen. Von Geflüchtetenorganisationen erreichen uns vermehrt Hinweise, dass es zu Zurückweisungen an der Grenze kommt, selbst wenn ein Asylgesuch geäußert wird und aufgrund der rechtlichen Voraussetzungen ein Dublin-Verfahren durchgeführt werden müsste. Für uns ist klar: Das Recht auf Asyl darf nicht ausgehöhlt werden!

Wir bitten Sie daher um Ihre Aufmerksamkeit und die gründliche Evaluierung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der stationären Binnengrenzkontrollen Deutschlands zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz, um sicherzustellen, dass sie im Einklang mit den EU-Regeln und Werten stehen und keine dauerhafte Belastung für die Menschen und Unternehmen in den Grenzregionen bleiben.


Mit freundlichen Grüßen

Anna Cavazzini, Mitglied des Europäischen Parlaments

Erik Marquardt, Mitglied des Europäischen Parlaments

Michael Bloss, Mitglied des Europäischen Parlaments

Rasmus Andresen, Mitglied des Europäischen Parlaments

Dr. Hannah Neumann, Mitglied der Europäischen Parlaments

Marcel Emmerich, Mitglied des Deutschen Bundestages, Obmann im Innenausschuss (Baden-Württemberg)

Leon Eckert, Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitglied im Innenausschuss (Bayern)

Julian Pahlke, Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitglied des Innenausschusses (Niedersachsen)

Filiz Polat, Mitglied des Deutschen Bundestages, Parlamentarische Geschäftsführerin (Niedersachsen)

Nyke Slawik, Mitglied des Bundestages, Stv. Vorsitzende der deutsch-polnischen Parlamentsgruppe (NRW)

Kassem Taher Saleh, Mitglied des Deutschen Bundestages (Sachsen)

Karl Bär, Mitglied des Deutschen Bundestages (Bayern)

Erhard Grundl, Mitglied des Deutschen Bundestages, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss (Bayern)

Sahra Damus, Mitglied des Landtages von Brandenburg

Toni Schuberl, Mitglied des Bayerischen Landtages

Florian Siekmann, Mitglied des Bayerischen Landtages, Sprecher für Inneres

Heiner Klemp, Mitglied des Landtages von Brandenburg, Sprecher für Wirtschaft, Europa und Kommunales

Benjamin Rauer, Mitglied des Landtages Nordrhein-Westfalen, Sprecher für Arbeit, Flucht und Religionspolitik

Hannes Damm, Mitglied des Landtags Mecklenburg-Vorpommern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender

Carla Kniestedt, Mitglied des Landtages von Brandenburg

Alexander Schoch, Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg, Sprecher für Technologiepolitik und Ressourceneffizienz

Ines Kummer, Mitglied des Sächsischen Landtags

Marie Schäffer, Mitglied des Landtages von Brandenburg, Sprecherin für Innenpolitik und Asyl